«Je länger ich alleine bin, desto schwieriger wird es für mich»
Andrea sitzt häufig zu Hause und liest. Ihre beiden Katzen leisten ihr Gesellschaft, doch sie sehnt sich nach menschlichen Kontakten. Auch die Wissenschaft zeigt: Einsamkeit kann tödlich sein, daher reagiert jetzt die Basler Politik.
Andrea Friedli* arbeitet Teilzeit in einem Altersheim und hat dieses Jahr Weihnachten Dienst. «Das finde ich total schön, dann bin ich nicht alleine», sagt sie. Silvester will sie einfach früh ins Bett gehen, sich die Decke über die Ohren ziehen und ins neue Jahr schlafen. Sie hat sich über Gärngschee bei Bajour gemeldet, um über ihre Einsamkeit zu sprechen. Die 52-Jährige ist vor drei Jahren das erste Mal im Leben alleine in eine eigene Wohnung gezogen, nachdem sie sich von ihrem Partner getrennt hat. «Das ist eine riesige Umstellung», sagt sie.
«Ich bin sehr einsam», erzählt Andrea. Nach dem Tod ihrer Mutter ist nun nur noch ihre Schwester aus der Familie übrig, sonst niemand. Sie hat Kontakt zu einer Freundin, aber einen Freundeskreis hat sie nicht. Die Arbeit tut ihr gut, weil sie die einzige Ablenkung in ihrem Alltag ist. Motiviert, alleine etwas zu unternehmen, ist sie nicht: «Es ist für mich eine grosse Überwindung, unter Menschen zu gehen. Je länger ich alleine bin, desto mehr Mühe habe ich, mit anderen zusammenzusein. Ich bin es auch gar nicht mehr gewohnt.»
Wenn sie unter Leute geht, fühlt sie sich schnell müde und überfordert. Das hat auch mit Corona zu tun: «Seit der Pandemie habe ich den Anschluss verloren und weiss nicht, wie ich ihn wiederfinden soll». Aber sie ist auch stolz auf sich, da sie gelernt hat, ab und zu mit sich alleine zufrieden zu sein. «Das war ein Prozess, ich habe viel geweint und bin durch eine Krise gegangen.» Dennoch spricht Andrea von einem Teufelskreis, denn «je länger ich alleine bin, desto schwieriger wird es für mich, einen Ausweg aus der Situation zu finden.»
Corona stellt für Andrea und andere einsame Menschen eine Zäsur dar. Die Zahlen des Bundesamts für Statistik, nach denen sich jeder dritte Mensch in der Schweiz einsam fühlt, stammen aus dem Jahr 2019. Während der Corona-Pandemie haben sich die Probleme vieler Menschen noch einmal verschärft. Schuld daran, dass so viele Menschen einsam sind, ist aber auch die digitale Welt. Denn Menschen, die sich viel online unterwegs sind, verlernen den Umgang mit anderen Menschen. Fiktive Beziehungen kann man zwar auf Social Media intensiv pflegen, sie können aber zwischenmenschlichen Beziehungen im echten Leben nicht ersetzen. Auch die fehlende Work-Life-Balance in der aktuellen Leistungsgesellschaft wird als Grund für Einsamkeit genannt. Bei zu viel Arbeit gerät das das soziale Umfeld schnell in den Hintergrund.
Regierung will vernetzen
Das beunruhigt auch Pascal Pfister. Der SP-Grossrat fordert in seinem Vorstoss vom November 2021 für Basel-Stadt eine Strategie gegen die Einsamkeit. Im Anzug Pascal Pfister und Konsorten wird darauf verwiesen, dass Einsamkeit wissenschaftlich belegt so schädlich ist wie das Rauchen. Sie macht psychisch und körperlich krank und verkürzt die Lebenserwartung.
Pfister wollte daher, dass sich der Staat der Einsamen annimmt und forderte die Regierung auf, eine Strategie zu entwickeln. Das scheint dem Regierungsrat etwas zu weit zu gehen, doch immerhin erklärt er sich in seiner Antwort bereit, in Zukunft eigene Daten zum Thema Einsamkeit zu erheben. Ausserdem will er Akteur*innen, die sich in dem Bereich engagieren, zu einem gemeinsamen Koordinationstreffen einladen. Am 6. Dezember hat der Grosse Rat stillschweigend die Motion Freiwilligenprojekte gegen Einsamkeit unterstützen dem Regierungsrat überwiesen. Dieser wird nun innerhalb von drei Monaten eine Stellungnahme erarbeiten.
Es gibt bereits heute zahlreiche Angebote für einsame Menschen in Basel (Übersicht siehe Box). Das weiss auch Anni Tschan*. Doch sie bittet nicht gerne um Hilfe. Stattdessen flieht sie vor der Einsamkeit.
Als wir mit ihr sprechen, ist sie gerade wieder in Basel angekommen. Doch am liebsten würde sie grad wieder verschwinden. Die 45-Jährige ist gerne mit ihrem ausgebauten SUV in der Welt unterwegs. Sie lebt, wann immer möglich, in ihrem Auto. Zuletzt war sie vier Wochen in Sardinien.
Warum kehrt sie wieder nach Basel zurück, wenn sie hier nichts hält? «Die Bürokratie. Rechnungen, solche Dinge müssen erledigt werden», sagt Anni. Auch in ihrem Leben war Corona ein Wendepunkt. 2018 hatte sie einen Burnout als Wirtschaftsingenieurin. Dann wurde sie selbstständige Wanderleiterin und Skilehrerin. «Ich war immer unter Leuten und selten allein. Dann kam die Pandemie und ich wurde total einsam.» Plötzlich fehlten die Touristen und somit die Aufträge als Wanderleiterin.
Im Van weniger einsam als in Basel
Und dann kam eines zum anderen: Da sie keinen Anspruch auf Ersatzleistungen hatte, hat sich Anni arbeitslos gemeldet. Nun, nach 500 Bewerbungen hat sie immer noch keinen neuen Job und muss sehen, wie sie sich über Wasser hält. Sie fühlt sich alleine gelassen. «Es liegt auch an mir, ich bin so erzogen, dass ich immer alles alleine stemmen möchte. Ich frage ungern um Hilfe.» Nach einem Unfall im Jahr 2020 kann sie nicht mehr als Skilehrerin arbeiten – und es fehlt Anni daher an einer Perspektive.
«Wenn ich im Van unterwegs bin, geht es mir gut. Dann bin ich zwar alleine unterwegs, aber viel weniger einsam als in Basel.» Sie trifft immer wieder Menschen auf Reisen und findet am besten «dass dort niemand mir gegenüber Vorurteile hat. Auf Reisen bin ich nicht die arbeitssuchende Anni, auf die andere herabblicken.» Nach zwei Tagen in Basel ist ihr hier alles schon wieder zu viel. Sie muss ihre Wohnung auflösen und sich eine günstigere suchen. Das widerstrebt ihr, denn eigentlich braucht sie gar kein Dach überm Kopf, wie sie sagt. Sie will nicht immer alleine in der Wohnung sitzen mit all meinen Rechnungen und Dingen, die erledigt werden müssen. «Die Bürokratie wächst mir über den Kopf, ich komme alleine damit nicht klar.» Echte Freunde, die ihr helfen könnten, hat sie nicht, auch zu ihren Eltern hat Anni keinen Kontakt mehr.
Andrea und Anni sind beides Frauen. Tatsächlich haben sich auf unseren Aufruf auf Gärngschee ausschliesslich Frauen gemeldet, die offen über ihre Einsamkeit sprechen wollten. Natürlich sind aber ebenso Männer in der Schweiz betroffen. Das weiss auch Jakub Samochowiec vom Gottlieb Duttweiler Institut. Er ist Mitherausgeber der Schweizer Freundschaftsstudie «In guter Gesellschaft», die im Oktober erschienen ist. Er sagt: «Freundschaften wirken dem Gefühl der Einsamkeit entgegen. Im Zuge unserer Umfrage haben wir hinsichtlich der Zahlen keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen ausmachen können. Männer betrifft Einsamkeit genauso wie Frauen.
Viele junge Menschen sind einsam
Männer und Frauen stellen aber andere Erwartungen an Beziehungen zu anderen Menschen.» So würden Männer tendenziell mehr Leute kennen, aber weniger wirklich enge Kontakte aufbauen. Frauen hingegen hätten weniger, aber dafür vertrautere Kontakte. «In der Tendenz erkennen wir, dass Frauen mehr über ihre persönlichen Gefühle sprechen», so Samochowiec – was wiederum erklärt, dass sie auch eher öffentlich über ihre empfundene Einsamkeit reden. Ein weiterer Unterschied lässt sich hinsichtlich des Alters der einsamen Menschen feststellen. Besonders Jüngere geben an, sich besonders oft einsam zu fühlen. Jakub Samochowiec sagt: «Einsamkeit ist also nicht hauptsächlich ein Problem von alten Menschen, wie oft dargestellt.» Vielmehr passt diese Einsamkeit in ein Muster einer sich verschlechternden psychischen Gesundheit bei jungen Menschen.
- Tipps gegen Einsamkeit von Gesundheit BS:
- Fragen Sie, wie es Ihrem Gegenüber geht - „Wie geht’s dir?“ ist bereits ein guter Anfang.
- Hören Sie aktiv zu, was Ihr Gegenüber erzählt.
- Gehen Sie dahin, wo andere Menschen sind.
- Bieten Sie Menschen Kontakt an - oft trifft man andere Menschen, die genauso einsam sind wie man selbst und keiner traut sich, den ersten Schritt zu machen.
- Akzeptieren Sie Ihre Mitmenschen so, wie sie sind.
Auch das Leben von Monika Bergmann* hat sich seit Corona gewandelt. Während der Pandemie hat sie im Gesundheitswesen an vorderster Front gearbeitet und sich zurückgezogen. Seitdem ist für die 32-Jährige vieles anders: «Ich habe nicht mehr so den Anschluss an die allgemeine Gesellschaft gefunden und bin in meiner Freizeit oft alleine», sagt sie. Freund*innen fragen seltener nach, ob sie etwas unternehmen möchte.
Eine andere Welt
Dies liegt aber sicher auch daran, dass einige ihrer ehemaligen Bekannten nun Partner*innen und Kinder haben und «in einer anderen Welt leben». Monika fühlt sich nicht immer einsam, aber oft. Sie sagt: «In der Schweiz ist es sehr schwer, neue Leute kennenzulernen. Viele sind in Gruppen unterwegs oder verschlossen.» Alleine in den Ausgang geht sie nicht, denn abends nach ihrem Job ist sie einfach zu kaputt. Manchmal setzt sie sich in ein Café oder geht spazieren. Näher kennengelernt hat sie auf diese Weise aber noch niemanden.
Ganz anders geht es ihr, wenn sie alleine verreist. Sie war in Portugal in einem Surfcamp, wo die Leute offen und freundlich zu ihr waren, erinnert sie sich. «Auch in Schottland waren alle so neugierig und nett und ich habe tolle Menschen getroffen.» In der Schweiz etwas zu unternehmen, sei für sie auch eine finanzielle Frage. Sie wünscht sich, dass es einfacher wäre, neue Leute kennenzulernen und etwas zu unternehmen.
Wer aber in Basel bleibt und sich gerade an den Feiertagen einsam fühlt, kann auch in den Kirchgemeinden Anschluss finden. Caroline Schröder Field ist Pfarrerin vom Basler Münster und weist auf ein besonderes Angebot zu Weihnachten hin: «Gerade in dieser dunklen Jahreszeit sind viele Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen von Einsamkeit betroffen. Am Heiligabend heissen wir alle Interessierten an unserer offenen Weihnachtsfeier willkommen. Niemand muss alleine sein.»
Seit rund 40 Jahren können Menschen, die einsam sind, am 24.12. ab 18.30 Uhr in den Münstersaal kommen: Dort erwartet sie ein 3-Gang-Menu an festlich geschmückten Tischen. «Nach der Pandemie waren im letzten Jahr rund 80 Gäste an unserer offenen Weihnachtsfeier», sagt die Pfarrerin, die selbst seit Jahren mit ihrer Familie anwesend ist. Es kommen Menschen jeden Alters, auch Eltern mit Kindern oder Paare, die gemeinsam mit anderen Menschen Weihnachten feiern möchten. Die Teilnahme ist gratis und jede*r kann spontan und ohne Anmeldung kommen.
Offene Ohren für einsame Menschen
Und wenn gerade nicht Weihnachten ist? Dann gibt es zum Beispiel die «Offenen Ohren», die während der Öffnungszeiten im Münster für Besucherinnen und Besucher da sind, oder vierteljährig ein Trauercafé für Menschen, die jemanden verloren haben. Caroline Schröder Field ist es wichtig zu betonen, dass all diese Angebote nur mit Hilfe von Freiwilligen und mit Unterstützung von Drittmitteln möglich sind.
Für Anni wäre dieses Angebot nichts, wie sie zu Bajour sagt. Obwohl sich sich als sehr einsam bezeichnet, möchte sie keine sozialen Angebote nutzen, um neue Leute kennenzulernen. «Lieber fliehe ich aus Basel und träume von einem Leben im Van.» Anders Marina: Sie hat vor zwei Jahren auf Gärngschee eine Freundin gesucht. In der Bajour-Selbsthilfegruppe findet man (fast) alles: Buschikleider, Bohrmaschinen, Kindervelos: Und hin und wieder auch neue Freundschaften.
*Klarnamen der Redaktion bekannt.
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