Politik ist kein Krippenspiel

Unser Kolumnist Roland Stark findet, dass Auseinandersetzungen in der Regel mit Samthandschuhen geführt werden. Eine kleine Polemik gegen die Harmoniesucht.

Krippenspiel
Eine Krippe voller harmonischer Schäfchen. (Bild: Pixabay)

Über allen Gipfeln

Ist Ruh’,

In allen Wipfeln

Spürest Du

Kaum einen Hauch,

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur! Balde

Ruhest du auch.

– Johann Wolfgang von Goethe

Goethes Nachtlied von 1780 hat, bezogen auf unseren Politikbetrieb, an Aktualität gewonnen. Sieht man mal ab von dem Gezänk in den «sozialen» Medien, werden die Auseinandersetzungen in der Regel mit Samthandschuhen geführt. Motto: Friede, Freude, Eierkuchen. Heiner Geissler, einst als Helmut Kohls CDU-Generalsekretär ein begnadeter Grossmeister der Polemik, plädierte für uneingeschränkte Diskussionsfreiheit, gegen obrigkeitsstaatliche Sanktionen, gegen Maulkörbe und Denkverbote. Ausdrücklich meinte er auch innerparteiliche. Nur wer nichts tue, mache bekanntlich keine Fehler. «In der Politik ist es wie mit der Nächstenliebe», spottete er, «wo diese nur darin besteht, nichts Böses zu tun, ist sie von der Faulheit kaum zu unterscheiden.»

Ein direkter Schlagabtausch von Meinungen, Ideen, Personen und Parteien, die lustvolle Konfrontation mit offenem Visier? Tempi passati. Harmoniesucht herrscht. McPolitik: Mogelpackung. Viel Farbstoff und Kleister. Fehlende Substanz. Kreiert in Werbebüros. Ihren wichtigsten Auftrag sehen die Parteien nicht mehr darin, Prioritäten zu bestimmen und Orientierung zu geben. Sie verkümmern zu Wetterhäuschen, an denen sich die aktuelle Windrichtung ablesen lässt: Bevölkert von Zeitgeistsurferinnen- und surfern: links, rechts und in der Mitte.

Roland Stark
Zur Person

Roland Stark schreibt für Bajour neu einmal im Monat Kolumnen - unter dem Titel: Unvermummt. Das kommt daher, dass Stark dem «Verein für eine deutliche Aussprache» angehört, der im harmoniebedürftigen Basel kaum Mitglieder hat. Stark wurde 1951 in Appenzell geboren, an der Universität Basel studierte er später Heilpädagogik und arbeitete 42 Jahre auf seinem Beruf. 1968 trat er in die St.Galler SP ein, 1981 bis 1990 war er Präsident der SP Basel-Stadt, und von 1992 bis 1997 deren Fraktionspräsident, 2000/2001 wurde er Verfassungsratspräsident und schliesslich 2008/2009 Grossratspräsident. Stark ist mit der Journalistin Claudia Kocher verheiratet und hat zwei Töchter (15 und 17). Was Stark besornders gerne mag: Lesen und Schreiben. Wandern. Gute Nahrung, fest und flüssig. SC Freiburg.

Auf fast allen politischen Ebenen fehlt es an Tatkraft und vor allem an Zivilcourage. Allzu viele Politikerinnen und Politiker verstehen sich mehr als Warenverkäufer denn als Veränderer. Wen erstaunt’s, dass unter diesen Umständen vor allem das Heer der Kommunikationsbürokratinnen- und bürokraten aufgebläht wird. Abgefischt bei den Medien, die Redaktionen und Kernauftrag im Gleichschritt eindampfen.

An dieser Entwicklung sind die Medien selbst nicht unschuldig. Gebetsmühlenhaft wird jahraus, jahrein nach Politikerinnen und Politikern mit Ecken und Kanten gerufen. Bitte keine Weichspüler. Klartext, nicht Schönfärberei.

«Über Jahre hinweg werden politische Talente gesät und aufgezogen.»
Roland Stark, ehemaliger Präsident der SP Basel-Stadt

Aus leidvoller Erfahrung weiss ich: Im Ernstfall wird, auch innerhalb der Parteien und unterstützt von zahlreichen journalistischen Cheerleadern, Personalpolitik aux champignons betrieben. Über Jahre hinweg werden politische Talente gesät und aufgezogen. Diese werden, kaum etwas gewachsen, regelmässig mit Dreck beworfen, gedeihen aber natürlich weiter. Stecken sie schliesslich die Köpfe aus dem Boden, werden diese kurzerhand abgeschnitten. Nach den Wahlen beginnt der Prozess wieder von vorne.

Eindrücklich lässt sich dieses «Erfolgs-Modell» auch am Beispiel der Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider illustrieren. Sie erschien vor den Wahlen als ideale Kandidatin. «Gmögig», «volksverbunden», «herzlich», «den Menschen zugewandt».  Fröhlich blökten ihre Schwarznasenschafe im idyllischen Jura. Die perfekte Alternative zu der als kühl, unfreundlich, sperrig, spröd und medienfeindlich verleumdeten Ständerätin aus der rot-grünen Hölle Basel-Stadt. Seither sind wenige Monate vergangen, schon lesen wir in den Gazetten, dass es der Bundesrätin an Substanz und Kompetenz fehle. «Gmögig» allein, heisst es plötzlich, auch aus der Ecke ihres bürgerlichen Fanblocks, genüge eben nicht als Voraussetzung für das anspruchsvolle Amt.

«Bloss nicht anecken, keine Ruhestörung, kein Risiko.»
Roland Stark, ehemaliger Präsident der SP Basel-Stadt

Kein Wunder dominiert beim politischen Führungspersonal, selbst in den Regierungen, unterdessen das Prinzip «Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste». Ohne Rückversicherung in Partei, Fraktion oder Regierungsrat tritt keine Spitzenkraft mehr in einer heiklen, umstrittenen Frage an die Öffentlichkeit. Bloss nicht anecken, keine Ruhestörung, kein Risiko. Was ist das, als trauriges Beispiel, für eine verkümmerte – linke – Streitkultur, wenn ein ehemaliger SP-Regierungsrat bei Onlinereports die Vorfälle rund um den Basler 1. Mai nur noch im Schutz der Anonymität zu kommentieren wagt.

In den paar Wochen vor den Wahlen, im September und Oktober, wird sich die spiegelglatte See vielleicht etwas kräuseln. Auf stürmischen Wellengang darf man nicht hoffen. Nachher gilt dann wieder, was Kurt Tucholsky über die Zeit nach den Wahlen gedichtet hat:

«Jetzt ist die wilde Zeit vorüber, nun hat die liebe Seele Ruh; des Bürgers Blick wird wieder trüber, ihm fallen beide Augen zu. Den Braven schüttelt ein Gehuste, er kann nicht mehr, er ist so matt; es fehlt ihm an der Puste, weil er sich überanstrengt hat. Wir wollen ihn ins Bettchen stecken. Er schläft und die Regierung wacht; so lasst ihn ruhn. Nur nicht wecken! Wir wünschen eine gute Nacht.»

Herz
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