Regierungs-Wahlkampf im Kleinbasel: Es war 'ne geile Zeit
Sachlich, ausgewogen, leider öde: Wahlberichterstattung ist in der Regel trockene Kost. Das muss nicht sein. Ein Besuch im Basler Wahlkampf aus Ballermannoptik.
Alle Zitate der Kandidierenden sind wahrheitsgetreu wiedergegeben. Die Beschreibungen des Darumherums sind zum Teil leicht übertrieben. Was nicht heisst, dass sie weniger wahr wären. Ein Grund, warum sich die Mehrheit der stimmberechtigten Bevölkerung nicht für Wahlen und Abstimmungen interessiert, sind unter anderem steife Kragen und Info-Anlässe mit der Anziehungskraft eines Elternabends. Die Allgemeine Sachlichkeit macht vielleicht unter Polit-Nerds was her – in Konkurrenz mit dem heissen Scheiss drüben auf Netflix oder ein bisschen Kiffen und Knutschen auf der Claramatte ziehen diese Events, die zur Zeit überall stattfinden, immer den Kürzeren.
Auch ich hätte an diesem Mittwochabend Aufregenderes zu tun.
Aber ich will mal erleben, was passiert, wenn man selber ein bisschen an den Partyreglern dreht. Dafür bin ich zur Wahlarena der Gemeinnützigen Institutionen Beider Basel (GI) im Union gefahren. Livin' La Vida Loca, Lametta in die Tastatur und Funken auf die Bühne. Vorhang auf für die geilste Wahlshow, die du in diesem Wahlkampf verpasst hast, du apolitisches Stück Sellerie.
Die Regeln sind schnell erklärt: Je zwei Regierungskandidat*innen treten auf der Bühne des Festsaals im Union gegeneinander an. Zehn Minuten Trashtalk. Zum Schluss jedes Wettstreits sollen sich die Kandidierenden gegenseitig eine «überraschende Jokerfrage» stellen, dann ist das Duell vorbei.
Ein*e Kandidat*in bleibt sitzen, der*die andere geht ab und ein*e neue*r besetzt den Platz.
Dieses Wahlkampfkarussell mit Wumms haben sich die
GI ausgedacht. Es soll darum auch nicht um Bettler*innen oder Parkplätze gehen, sondern bitte nur um Fragen der Gemeinnützigkeit, erklärt Moderatorin Martina Rutschmann und bittet dann das erste Knallerduell auf die Bühne, Trrrromelwirbell, Tanja Soland und Kaspar Sutter. Zwei aus der SP. Heftig.
Ich mach die Popcorn auf, Soland knackt mit den Knöcheln. Jetzt wird’s wüst.
Während Sutter und Soland die Bühne betreten, applaudiert Baschi Dürr ganz wild aus der ersten Reihe, der alte Anheizer. Teile des Publikums machen mit. Rutschmann eröffnet: «Warum müssen gemeinnützige Institutionen, die einen gesetzlichen Auftrag erfüllen, wie zum Beispiel die Opferhilfe, selber Drittmittel beschaffen und kriegen nicht einfach alles Geld vom Staat?»
Soland: «Nur dann weiss man, dass es sie wirklich braucht.» Sutter: «Wenn wirklich eine gesetzlich vorgeschriebene Leistung erbracht wird, dann müssen laut Gesetz keine Drittmittel beschafft werden. Aber Geld von Dritten unterstreicht die Relevanz. Es dient als Qualitätssiegel.»
Noch keine drei Minuten rum, und mir will schon das Gesicht einschlafen, da holt Sutter unvermittelt die Abrissbirne gegen bürgerliche Positionen aus dem Jackett.
«Da haben wir bei Rot-Grün ja grundsätzlich ein anderes Staatsverständnis als die bürgerlichen Gegenkandidierenden. Es geht um die Frage, wird die Leistung via Markt finanziert? Das bedeutet dann: Jeder zahlt gleich viel und wer sich’s nicht leisten kann, kriegt die Leistung nicht. Oder wird die Leistung solidarisch via Steuern finanziert? Wir von der SP neigen stärker dazu als die Bürgerlichen, Leistungen solidarisch zu finanzieren.»
Baschi Dürr hat jetzt aufgehört zu klatschen.
Soland nickt fast unmerklich.
Rutschmann will als nächstes wissen, wie Soland gleichzeitig politisch links sein könne und mit Zahlen hantieren, das sei doch eher etwas für den gesunden Menschenverstand. Und der wiederum sei doch eher eine Kernkompetenz der Bürgerlichen.
Rutschmann zu Soland: «Spüren sie da schon was, dass sie da möglicherweise etwas abdriften aus der rotgrünen Ecke?»
Ein greiser Autonomer neben mir gerät ob dieser Frage komplett ausser sich und wirft aus Protest ein paar abgebrochene Mercedes-Sterne auf die Bühne, die Halle tobt. Langsam kommt Stimmung auf.
«Ich muss in der Tat immer allen erklären, wir haben kein Geld, wir können nicht mehr ausgeben. Das mag aus linker Sicht atypisch sein», sagt Soland, «aber bislang habe ich das, denke ich, gut im Griff».
Zack, das sitzt. Die sachliche Schneidigkeit wirkt augenblicklich wie Baldrian auf die ausgeflippten Punks aus dem graumelierten Publikum, namentlich ein paar LDP-Grossräte hatten beim Thema Soland und solidem Finanzhaushalt angefangen, vor der Bühne zu «Tanja kumm zu uns»-Sprechchören zu pogen.
Jetzt ist wieder Ruhe im Saal. Sutter geht ab. Christine Kaufmann betritt die Bühne und redet mit Tanja Soland über die Finanzierung der öffentlichen Bibliotheken. Kaufmann: «Ich setze mich voll dafür ein, dass Orte zur Förderung der Lesekompetenz staatlich finanziert werden.» Interessanter wird’s nicht, Soland geht, Kaufmann bleibt.
Als jetzt Stefan Suter die Bühne betritt, wird ihm von Moderatorin Rutschmann, noch bevor er seinen Platz erreicht, der Rockzipfel angezündet.
Die SVP sei ja, apropos Gemeinnützigkeit, nicht grad als soziale Truppe bekannt. Die Partei spendiere vielleicht mal einem Bauern eine Mistgabel und das war’s.
Jetzt rasten in der hintersten Reihe die JUSO richtig aus vor Freude und brüllen mit heissen Tränen in den Augen Rutschmanns Namen zur Melodie der Internationalen in Richtung Bühne. Irgendwo brennt eine Bengalofackel. Wie geil kann Wahlkampf sein.
Suter strählt sich mit einem Kamm den angebrannten Schnauzer zurecht und sagt dann, ohne mit der Wimper zu zucken, apropos Mistgabel: Er sei ja Hobbybauer und Christine Kaufmann, also er wisse ja nicht ob die Leute das wüssten, diese Regierungskandidatin Kaufmann sei also jahrelang Tierärztin gewesen für seine Schafe. ALSO ICH HAB DAS NICHT GEWUSST, will ich sofort komplett beeindruckt auf die Bühne rufen, da ist Suter schon fortgefahren, dochdoch, Frau Kaufmann sei dann jeweils auf die Weide gekommen und habe seine Schafe entwurmt.
Eine Bibliothekarin in Reihe vier wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.
Dann kommt die grosse Stefan-Suter-Soli-Show. Er redet jetzt ausführlich über sein Hilfswerk in Madagaskar und erzählt, dass die Leute dort nicht so viel haben, und wir in Basel also nochmal ganz anders dran seien, wenn wir von Corona-KRISE sprächen.
Kaufmann geht unterdessen von der Bühne. Dürr fegt heran. Und lustigerweise wird jetzt Suter, dieser friedliche, ruhige, gesetzte Herr, ganz aufgeregt, ja, er gerät richtiggehend in Rage, als hätte das FDP-Schlachtross Dürr ihn an eine gemeinsame Leidenschaft erinnert:
Den Abbau der Bürokratie.
«Ich lehne den Formularzwang ab, wo er gesetzlich nicht vorgeschrieben ist. Dort lehne ich ihn zwar auch ab, aber dort müssen wir ihn halt einhalten. Wenn jemand ein anständiges Gesuch an die Behörden schreibt», sagt Suter, jetzt immer energischer, «DANN HAT DIE BEHÖRDE DAS GESUCH ANZUNEHMEN ANSTATT ZU SAGEN, DAS WEISEN WIR ZURÜCK, DU MUSST NOCH EIN FORMULAR AUSFÜLLEN.»
Täusche ich mich oder summt jetzt irgendwer die Melodie zu Beethovens neunter Sinfonie? «Das ist eine ENTMENSCHLICHUNG DER GESELLSCHAFT», sagt Suter, weiterhin laut und sehr deutlich, «deswegen bin ich ganz klar gegen Formularzwang.»
Gänsehaut im Atrium. Selbst langjährige Fans dieses bekannten Basler Anwalts reiben sich ob dieses inbrünstigen Vortrags die Augen.
Welcher freiheitsfeindliche Akt bürokratischer Gesetzestreue mochte diesem friedliebenden Suter nur den Formular-Stachel so tief ins Fleisch getrieben haben? Dürr versucht, forciert durch die messerscharfe Frage der Moderatorin, ob er schon «gewisse Formulare abgeschafft habe, seit er im Amt sei», die Gemüter zu beruhigen.
Das eine oder andere Formular sei nicht alleine verantwortlich für all die Papierberge. Die Papierberge müsse man aber reduzieren, klar, da könne die Digitalisierung viel nutzen.
Hat sie Digitalisierung gehört?
Im Publikum blickt jetzt eine elektrisierte Esther Keller von ihrem Notizblock auf, bereit, sich mittels Teleportation direkt auf die Bühne zu beamen. Dürr beendet seinen Themenblock mit der Souveränität eines abgebrühten Magistraten, er lobt Brutschin, Engelberger und Soland für ihre Arbeit in der Regierung während des Lockdowns, kurz, er ist ganz und gar staatsmännisch und sagt zwischendurch Suter mit einem knackigen Nicken Goodbye, als der von der Formulartirade etwas geschwächt seinen Platz auf der Bühne räumt.
So geht das in einem fort. Die einen kommen, die anderen gehen. Dürr gegen Jans, Jans gegen Keller, Keller gegen Ackermann, Ackermann gegen Eymann, Eymann gegen, die Ersten werden die Letzten sein, Sutter. Engelberger, Cramer und Mueller fehlten an diesem Abend.
Zwischendurch brandet immer wieder eine La-Ola-Welle durch den Saal, der mit ca. 40 Besucher*innen coronabedingt nur sehr locker bestuhlt ist. Viele Gäste dieses Events haben Mandate in Verwaltungsräten von NGOs oder Stiftungen, andere sind Polit-Ultras aus den Steilkurven der Quartiervereine oder beinharten Clubs wie Klybeck Plus. Die Fragen aus dem Publikum sind folglich so informiert und qualifiziert, dass ich als Partylöwe nicht immer alles verstehe.
Aber das macht jetzt auch nichts, find ich, dabei sein ist alles.
Nach etwas mehr als einer Stunde ist unvermittelt Schluss. Und jetzt stehen sie alle, jubeln, klatschen, die Juli-Coverband mit Elisabeth Ackermann an der Gitarre spielt «JA ICH WEISS; ES WAR NE GEILE ZEIT» und auf der Bühne tanzen Eymann, Dürr, Soland und die anderen mit den Händen in der Luft einen Tanz wie Bill Gates und seine Kumpels damals nach der Präsentation des ersten Windows-Computers anno 1995.
Ich hab mich an diesem Abend emotional komplett auf die Kandidat*innen einlassen können.
Man denkt ja immer, man müsse intellektuell verstehen, was jetzt Frau Eymann von Keller und Keller von Ackermann unterscheidet. Aber am Ende des Tages geht’s doch, seien wir ehrlich, den allermeisten von uns einfach um das Feeling. Wer Mehrheiten fühlt, wählt Ackermann, wer gar kein Bock hat auf Formulare, hyped den Suter. Beat Jans kam zum Beispiel zu spät zum Podium, er war wohl noch busy. Er hatte ZWEI Rollkoffer dabei, eine Gesichtsmaske in FCB-Farben im Gesicht, steckte aber halsabwärts in einem Anzug mit Bügelfalten so scharf wie Rasierklingen. Ich mein, wie sehr kann ein Mann gleichzeitig so nahe beim Volk UND Top-Manager sein?
Das sind Dinge, die lassen sich aus der Ferne einfach nicht nachvollziehen, man muss schon da gewesen sein. Es war ne geile Zeit, Gänsehaut, Emotionen, die volle Dröhne Gemeinnützigkeit. Ich freu mich schon aufs nächste Podium. Der Wahlkampf ist in vollem Gang. Ich bin heiss!
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Als hätten die GI einen perfiden Anschlag auf die Darstellung ihrer Wahlarena geahnt, haben sie die komplette Veranstaltung zur Absicherung gefilmt und ins Internet gestellt. HIER kann man das Podium nachschauen.
Die nächste uns bekannte Wahlkampfveranstaltung mit den Regierungsratskandidat*innen veranstaltet der Verein Zukunft Klybeck und findet am 1. Oktober statt.
In diesem Text der Republik wird mit gebührender Sachlichkeit und faktisch untermauert beschrieben, warum Wahlen mehr wie Parties ablaufen sollten: «Ihr wollt Wähler? Gebt ihnen Party!»