Schischkin kommt ins Münster und fast niemand geht hin
Basel war zum zweiten Mal Schauplatz des Festivals «Erasmus klingt!». Für Bajour-Kolumnistin Cathérine Miville geht das musikalische Konzept auf – sie fragt sich aber, warum die Basler*innen zu Hause bleiben, wenn der russisch-schweizerische Autor Michael Schischkin die Eröffnungsrede hält.
«Erasmus klingt!» Klingt gut. Dieser Slogan bleibt hängen. Auch weil er zunächst irritiert. Erasmus von Rotterdam war ja viel: Humanist, Europäer, katholischer Theologe, Gegner Luthers, Philosoph, Kosmopolit – eine Lichtgestalt der Renaissance. Aber, was klingt? Natürlich die wunderbare Musik seiner Zeit. Und so schöpft das Festival «Erasmus klingt!» bei der Programmplanung aus dem Vollen und schafft zusätzlich eine kluge und sinnige Verbindung zu Erasmus‘ Werk «Die Klage des Friedens», dem Hauptthema der interdisziplinären Biennale.
Das Konzept des Festivals will «die Sinnlosigkeit eines Krieges rational vermitteln und gleichermassen durch Musik emotional fühlbar machen», so Christoph Müller, der Festival-Gründer in seinem Vorwort mit dem treffenden Titel «Die Stimme erheben» im sehr lesenswerten Festival-Programmheft.
Cathérine Miville ist in Basel geboren und aufgewachsen. Sie unternahm ihre ersten Karriereschritte am Theater Basel, später lebte sie lange Zeit in Deutschland, führte an verschiedenen Häusern und bei Dieter Hildebrandts Sendung «Scheibenwischer» Regie und leitete zuletzt als Intendantin das Stadttheater Giessen. Als vor drei Jahren Mivilles Vater, der Basler SP alt Ständerat Carl Miville-Seiler, starb, beschloss sie, nach Beendigung ihrer Tätigkeit als Intendantin, wieder in Basel zu leben. In ihrer neuen Kolumne «Ma ville» wirft die 70-Jährige regelmässig einen genauen Blick auf das kulturelle Leben in der Stadt und reflektiert, wie sich Basel entwickelt hat.
Die ausgewählten Werke der Renaissance und des Barocks, die auf höchstem Niveau musiziert werden, stehen alle im Zusammenhang mit Krieg und Frieden. Auch werden kurze Lesungen aus Schriften von Erasmus in die Abende eingeflochten. Die Konzerte sind alle voll, und sichtbar berührte, glückliche und auch nachdenkliche Menschen verlassen anschliessend die Kirchen. Das musikalische Konzept geht auf.
Eröffnet wurde das Festival mit einer Feier im Münster in unmittelbarer Nähe zur Grabstätte von Erasmus. Christoph Müller ist es geglückt, Michail Schischkin für die Eröffnungsrede zu gewinnen. Schischkin, eine der wenigen noch nicht verstummten, regimekritischen Stimmen der russischen Literatur, lebt in der Schweiz, seitdem er 1995 Russland – damals freiwillig – verlassen hat. Eine Rückkehr wäre heute zu gefährlich, denn er äussert sich nach wie vor messerscharf zur russischen Politik. Seine Texte und Interviews haben bis heute nichts an Schärfe und Klarheit verloren.
Und dieser Mann kommt nun nach Basel, um die Eröffnungsrede zu «Erasmus klingt!» zu halten. Ich bin rechtzeitig zum Münster gegangen. Wenn ein so hochkarätiger, kluger Autor wie Michail Schischkin eine Rede zur so aktuellen Thematik dieses Festivals hält, wird das Münster brechend voll, dachte ich.
Es gibt doch kaum einen geeigneteren Intellektuellen als Schischkin, um Erasmus wieder aufleben zu lassen.
Falsch gedacht. Denn das Münster blieb fast leer. Das ist schade, betrüblich und – gerade in Basel – nicht nachvollziehbar. Gibt es doch kaum einen geeigneteren Intellektuellen als Schischkin, um Erasmus wieder aufleben zu lassen.
Das kleine Grüppchen Interessierter erlebte eine aussergewöhnlich gut konzipierte, stimmige Eröffnungsfeier, von der die meisten Menschen in Basel kaum Notiz nahmen. Die Stadt wird durch Erziehungsdirektor Mustafa Atici vertreten. Bei der zentralen Wichtigkeit, die Erasmus der Bildung zuschreibt, sicher der genau richtige Vertreter der Stadtregierung, was sich auch in seiner kurzen Ansprache bestätigt.
Michail Schischkin zitierte als Abschluss seiner wirklich bemerkenswerten Rede aus Erasmus‘ «Süss scheint der Krieg den Unerfahrenen». Der Text gilt als erste Friedensschrift der europäischen Literaturgeschichte:
«Wenn man also zuerst nur die Erscheinung und Gestalt des menschlichen Körpers ansieht, merkt man denn nicht sofort, dass die Natur, oder vielmehr Gott, ein solches Wesen nicht für Krieg, sondern für Freundschaft, nicht zum Verderben, sondern zum Heil, nicht für Gewalttaten, sondern für Wohltätigkeit erschaffen habe? […] Der Mensch aber ist nackt, zart, wehrlos und schwach, nichts kann man an den Gliedern sehen, was für einen Kampf oder eine Gewalttätigkeit bestimmt wäre. Er kommt auf die Welt und ist lange Zeit vor fremder Hilfe abhängig, kann bloss durch Wimmern und Weinen nach Beistand rufen. Die Natur schenkte ihm freundliche Augen als Spiegel der Seele, biegsame Arme zur Umarmung, gab ihm die Empfindung eines Kusses, das Lachen als Ausdruck von Fröhlichkeit, Tränen als Symbol für Sanftmut und des Mitleids.»
Besser kann Erasmus nicht klingen. Es sei denn, Schischkin spricht.
Musikalisch umrahmt wurde die Feier von zwei Musiker*innen des Ensemble Memor der Scola Cantorum Basiliensis. Sie musizierten auf betörende Weise zwei Lieder nach Texten aus Ariosts «Orlando Furioso», in denen zunächst ein Einpeitscher mit zunehmender Aggression zur Teilnahme an einem Kreuzzug aufruft. Im anderen Lied hüllt sich nachts eine zurückgelassene Frau gegen die Einsamkeit in den Mantel ihres Mannes, einen Kreuzritter.
Besser kann Erasmus nicht klingen. Es sei denn, Schischkin spricht. Beschämend, dass ihn kaum jemand wahrgenommen hat.