«Ich war der erste Migrant auf diesem Stuhl»
Bülent Pekerman (GLP) blickt mit Bundesratsfreuden, kulturellen Brücken und internationalen Herausforderungen auf sein Amtsjahr als Grossratspräsident zurück. Seine Schlussrede im Wortlaut.
Bleiben Sie ruhig sitzen, lassen Sie die Gurte angeschnallt und begleiten Sie mich auf den letzten Metern unserer Fahrt.
Sehr geehrter Herr Statthalter, caro Claudio Geschätzte Kolleginnen und Kollegen des Grossen Rates Sehr geehrter Herr Regierungspräsident ad interim, lieber Lukas Verehrte Damen und Herren Regierungsrätinnen und Regierungsräte Sehr geehrter Herr Vorsitzender des Gerichtsrates, lieber Stephan Sehr geehrte Mitarbeitende des Parlamentsdienstes Sehr geehrte Medienvertreterinnen und Medienvertreter Werte Damen und Herren Gäste auf der Tribüne und zu Hause an den Bildschirmen Liebe Familie
Vor einem Jahr habe ich von Ihnen die Ehre erhalten, hier auf dem Fahrersitz Platz nehmen zu dürfen und Sie – das Parlament – und damit den Kanton zu repräsentieren. Ich durfte das Steuer übernehmen, aber nicht die Macht, sondern vor allem die Verantwortung. Den Weg haben Sie bestimmt, Sie, das Volk und das Schicksal. Alle drei haben es gut mit mir gemeint. Sie haben das Tempo vorgegeben und das Ziel definiert. Ich durfte lenken, beschleunigen und Bremsbereitschaft erstellen, vor allem aber hatte ich das Glück, immer wieder das Autoradio voll aufdrehen zu dürfen.
Als wir vor einem Jahr in unseren DeLorean eingestiegen sind, hatte dieser ein paar Beulen und Kratzer. «Wir» waren gerade nicht Bundesrat geworden, hatten die Nachwehen der Pandemie im Kofferraum und ein kurz zuvor noch unvorstellbarer Krieg in Europa trübte die Sicht.
Die Welt ist in diesem Jahr leider nicht besser und die Sorgen sind nicht weniger geworden. Der Krieg in der Ukraine und das Massaker der Hamas in Israel, gefolgt vom Krieg in Gaza, zeigen uns, dass Tod, Angst und Elend uns auch auf unserer weiteren Fahrt begleiten werden. Als kosmopolitische Region und Heimat von Menschen aus aller Welt bleiben auch Basel, Riehen und Bettingen nicht unberührt von den Sorgen, die uns die internationale Politik bereitet.
«In Basel ist die Welt zu Hause und mit ihr ihre Sorgen.»Bülent Pekerman
Von der Chrischona bis zum Zolli, vom Hafen bis zum Bruderholz leben Zehntausende von Menschen, für welche die Bilder der Tagesschau keine fremden Sorgen und abstrakten Nachrichten sind. Der Fernseher bringt Geschichten aus der Welt ans Rheinknie, die von Freunden und Verwandten berichten, von nahen und fernen Menschen, die wir lieben oder nur kennen oder die einfach unsere Mitmenschen sind. In Basel ist die Welt zu Hause und mit ihr ihre Sorgen. In Basel leben aber auch und vor allem Freude, Zuversicht und Mitgefühl, das durfte ich auf dieser einjährigen Fahrt erleben.
Der Roadtrip durch das Basler Politjahr 2023 hat mich an vielen mir unbekannten Orten Halt machen lassen, und ich durfte über 130 Anlässe besuchen. Anlässe, die mir eine Ehre waren, Anlässe, von denen ich noch nie gehört hatte, Anlässe, die es noch nie gegeben hatte, Anlässe mit Cüpli und Krawatte und Anlässe mit Bier und Turnschuhen. Die Vielfalt der Einladungen, die man als Grossratspräsident erhält, ist ein Spiegel unserer Gesellschaft.
Von der Eröffnung des ersten kantonalen Behindertenparlaments bis zu kleinen Betriebsfeiern, vom 175-Jahr-Jubiläum des Bundesstaates bis zur persönlichen Diplomübergabe, vom grossen Hofstaat bis zum kleinen Auftritt. Ich durfte ganz viel von dem Wertvollen sehen, das die Baslerinnen und Basler leisten, und hören, was sie bewegt. Ich habe dabei viel gelernt, über Kunst und Kultur, über Geschichte und Tradition, über Sorgen und Bedürfnisse. Vor allem aber habe ich gelernt, dass nur derjenige, der an «Hundsverlochete» geht, erfährt, wo der Hund begraben liegt.
«Beat, beatus, der Glückselige, machte den ganzen Kanton glücklich und endlich fiel die Last von uns.»Bülent Pekerman
Natürlich waren die politischen Highlights weder zu übersehen noch zu überhören. Wir wurden Ständeratspräsidentin, und ennet der Birs wurde man Nationalratspräsident. Das allein würde schon Grossratspräsidenten zum Verfassen ihrer Memoiren veranlassen. Das politische Herz der Schweiz schlägt nun im Takt der Baslertrommel, und dann der Clou: wir wurden Bundesrat! Die Freude, die uns der Fussballrasen verwehrte, bescherte uns das Bundesparlament.
Von Riehen über Basel zog es einen von uns nach Bern. Beat, beatus, der Glückselige, machte den ganzen Kanton glücklich und endlich fiel die Last von uns. Das düstere Gefühl, dass uns niemand mag, die Angst, zu kurz zu kommen, wenn im Mittelland unser Geld ins Oberland verteilt wird, die Befürchtung, dass man jenseits der Jurakette vergessen hat, dass auch der prosperierende, urban und trinational geprägte Raum Basel in Bundesbern Gehör braucht.
Basel ist aufgestiegen und freut sich. Es war Zeit für Neues, und das gilt auch für meine Person. Nur wenige Grossratspräsidien durften in Basel einen eigenen Bundesrat empfangen, noch nie sass hier ein Fahrlehrer am Steuer, ich war der erste Migrant auf diesem Stuhl, der «fernab der Schweiz» geboren wurde und aufwuchs, der erste Grünliberale – und ja, ich war sogar der erste mit einer Haartransplantation.
Mit mir haben Sie, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, auf viel Neues gesetzt, und ich hoffe, ich habe Sie nicht enttäuscht. Wir waren nicht immer einer Meinung. An vier Gabelungen musste ich per Stichentscheid bestimmen, wie die Reise weitergeht. Ansonsten: Ob Überweisung oder Nichtüberweisung, ob Nachtsitzung oder keine Nachtsitzung, ob neue Anzüge oder alte Zöpfe. Sie haben den Kurs vorgegeben, an mir lag die Feinsteuerung.
«Wir haben gestritten und gelacht, aber vor allem haben wir uns verstanden.»Bülent Pekerman
Gemeinsam haben wir beispielsweise die Geschäftsordnung teilrevidiert und mit der bald digitalen Teilnahme an Ratssitzungen eine innovative Lösung zur Vereinbarkeit von Parlamentsarbeit, Familie und Beruf gefunden. Und mit dem neuen Gleichstellungsgesetz haben wir Gleichzustellende gleichgestellt. Wir haben gestritten und gelacht, aber vor allem haben wir uns verstanden, und ich hoffe, dass man unsere Politik auch ausserhalb dieses wunderschönen Saals verstanden hat.
Ich habe versucht, kulturelle Brücken zu bauen. In den Vorschauvideos für unsere Social-Media-Kanäle habe ich die Bevölkerung unseres Kantons auf unsere Grossratsdebatten aufmerksam gemacht, indem ich sie in zehn verschiedenen Sprachen begrüsst habe. Trotz intensiver Ausspracheübungen verstand ich zum Teil nicht genau, was ich sagte – auch das ist Politik…
Vor einem Jahr habe ich Sie darauf vorbereitet, dass Politik ein dauernder Aeschenplatz ist: «Es drängelt von hinten, es drückt von links, es hupt von rechts.» Doch mit Ihnen war es nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Freude, die Fahrt aufzunehmen. Mein Präsidialjahr entschwindet nun im Rückspiegel. Ich werde oft daran zurückdenken, meinen Enkeln davon erzählen und viele Freunde aus dieser Zeit mit «Back to the Future» nehmen.
Bülent Pekerman war der erste Grossratspräsidentvon der GLP und der erste mit kurdischen Wurzeln. Mit 15 Jahren kam er aus der Türkei in die Schweiz, ohne ein Wort Deutsch zu können. Wir haben den Fahrlehrer vor zwei Jahren, als er zum Statthalter gewählt wurde, bei der Arbeit besucht. Der Artikel zeichnet seinen Weg vom Hinterbänkler zum Politiker nach und berichtet von ihm als Brückenbauer zur Jugend, zur Perspektive von Migrant*innen.
Erlauben Sie mir noch ein paar Dankesworte. Das Amt des Präsidenten war mir eine grosse Ehre, und ich danke Ihnen allen für das mir entgegengebrachte Vertrauen, für die gute Zusammenarbeit und die freundschaftlichen Begegnungen in und ausserhalb des Rates. Sie haben dieses einzigartige und unvergessliche Jahr erst möglich gemacht. Meiner Fraktion danke ich herzlich für die Nomination, und meiner Familie gebührt der grösste Dank für ihre unermüdliche Unterstützung.
Mein besonderer Dank gilt meinem Statthalter Claudio Miozzari, der mich mit seiner ruhigen Art immer unterstützt hat. Als sein «Super-Präsidiums-Fahrlehrer», wie er mich kürzlich nannte, wünsche ich ihm in seinem neuen Amt viel Weitsicht und Scharfsinn und seinem Statthalter Balz Herter alles Gute.
Mein nächster und herzlicher Dank geht an den ersten Ratssekretär, Beat Flury. Er hat mich in allen Belangen stets kompetent und effizient unterstützt. Es war eine grosse Freude, mit Dir, lieber Beat, so gut zusammenzuarbeiten. Ein grosses Dankeschön geht auch an alle Mitarbeitenden der Parlamentsdienste, Sabine Canton, Eva Gschwind, Peter Frankenbach, Raymonde Morf Lange und Tamara La Scalea, sowie an die Kommissionssekretärinnen und -sekretäre, die im Hintergrund viel Arbeit geleistet haben, damit der Ratsbetrieb so reibungslos ablaufen konnte. Mein Dank geht natürlich auch an die Regierung, die Staatsschreiberin, den Vizestaatsschreiber und die Staatskanzlei. Aber auch an die ganze kantonale Verwaltung.
«Ich möchte auch der Migrationsbevölkerung unseres Kantons meinen grossen Dank und meine Anerkennung aussprechen.»Bülent Pekerman
Danken möchte ich auch allen Organisatorinnen und Organisatoren, bei deren Veranstaltungen ich zu Gast sein durfte. Mein Dank richtet sich an die Vertreterinnen und Vertreter aus den Bereichen Kunst und Kultur, Bildung, Sport sowie an die sozialen, religiösen und gesellschaftlichen Vereinigungen, Zünfte, Gewerkschaften und Unternehmen. Auch den regionalen, überregionalen und internationalen Interessensvertretungen und Netzwerken danke ich für den Einblick in ihre Arbeit und das Kennenlernen der vielfältigen Facetten unseres Kantons.
Last but not least möchte ich neben dem Basler Stimmvolk auch der Migrationsbevölkerung unseres Kantons meinen grossen Dank und meine Anerkennung aussprechen. Ihr unermüdlicher Einsatz und Beitrag sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart und Zukunft ist ein wesentlicher Pfeiler unseres gemeinsamen Wohlstandes. Die Migrationsbevölkerung hat oftmals noch keine Mitspracherechte, sie lebt deswegen mit unseren Entscheiden. An uns liegt es, diese vielen Menschen bei unserer parlamentarischen Arbeit nicht zu übersehen. Bevor ich meine letzte Session als Grossratspräsident für beendet erkläre, muss ich Sie warnen: Bleiben Sie sitzen. Der DeLorean parkt nicht (wo denn auch in dieser Stadt?), unsere Fahrt geht weiter! Ich fahre nur kurz rechts ran und gebe das Steuer nach links weiter. Claudio, gib Gas – oder Strom!
Und jetzt verabschiede ich mich als Grossratspräsident von Ihnen mit grossem Respekt und Dank für Ihre Arbeit und beende die letzte Session des dritten Amtsjahres der 44. Legislaturperiode des Grossen Rates des Kantons Basel-Stadt seit der Verfassung von 1875.
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