Ihr Name war Kowsika

Am 12. Juni 2018 nimmt sich eine junge Frau im Basler Untersuchungsgefängnis Waaghof das Leben. Sie erstickt – und erst rund 20 Minuten später überprüft das Aufsichtspersonal die Lebenszeichen. «Tod im Waaghof», Teil 1.

Tod im Waaghof Kowsika Porträt
Kowsikas grösster Traum war, eines Tages einen eigenen Kosmetiksalon zu betreiben. (Bild: Illustration Isabel Seliger/Republik)

Eine Warnung: Dieser Beitrag behandelt das Thema Suizidalität. Im Text werden Videoaufnahmen beschrieben, die das Geschehen zeigen.

Es gibt Bilder, die einem bleiben. Die auch Wochen, Monate, Jahre später wieder aufflackern, plötzlich und voller Details, als hätten sie sich tief in alle Schichten des Bewusstseins gebrannt. Manchmal, weil die Bilder von so herausragender Schönheit sind. Meistens aber, weil sie unerträglich sind.

So wie diese Bilder.

Sie stammen von den Überwachungskameras einer Sicherheitszelle im Untersuchungsgefängnis Waaghof in Basel. Sie zeigen einen langen, schmalen Raum, weisse Keramikplatten an den Wänden, am einen Ende eine Dusche und eine Toilette, daneben eine schwere Metalltür. Am anderen Ende ein Fenster und ein Bett. Zwei Kameras zeichnen auf.

Die Frau im Bild hat aufgehört zu schreien. Sie schlägt nicht mehr um sich, atmet ruhig. Liegt nur noch da, auf der grünen Matratze aus Plastik, und starrt an die Decke. Den grauen Gefängnissweater mit der Nummer 14 hat sie ausgezogen, ihr Oberkörper ist nackt.

Sie sitzt auf. Bindet die schwarzen Locken zurück und schnürt sich das Oberteil um den Hals. Zieht zu. Legt sich wieder hin. Zieht die Decke über den Kopf. Zieht sie wieder weg. Starrt die Wand an.

Eine halbe Stunde geht das so.

Dann, um 12.33 Uhr, steht die Frau auf und erhängt sich mit dem Ärmel des Traineroberteils am Fensterknauf.

Die Überwachungskamera filmt jedes Detail, zwei Minuten lang, bis die Frau regungslos liegen bleibt; das Gesicht und die Brust in die Zimmerecke gepresst, halb am Boden liegend, den Rücken durchgedrückt, die Beine nach hinten gestreckt.

Mehr als fünf Minuten vergehen, bis drei Aufseher in die Zelle treten. Zwei schneiden das Kleidungsstück durch, einer spritzt der Frau Wasser ins Gesicht. Ein Aufseher verlässt den Raum. Die beiden anderen folgen kurz danach.

Eine Aufseherin tritt ein. Sie zieht der Frau die Hose aus. Jetzt liegt sie flach auf dem Bauch, das Gesicht noch immer in die Ecke gepresst. Die Aufseherin geht. Die Metalltür fällt ins Schloss. Die Frau bleibt zurück. Alleine. Regungslos.

«Wir sollten den Notarzt haben, 144, und eine Polizeipatrouille. Es geht um einen möglichen versuchten Suizid.»
Der Notruf um 12.50 Uhr

Es sind jetzt zehn Minuten vergangen, seit sich die Frau am Fensterknauf erdrosselt hat, einem mondförmigen Griff aus Metall.

Es dauert noch mal zehn Minuten, bis die Aufseherin mit zwei Kollegen zurückkommt und der Frau an den Hals greift, 12.53 Uhr, zum ersten Mal überprüft jemand die Lebenszeichen, 13 Minuten nachdem die Aufseher*innen den Raum erstmals betreten haben.

Sie drehen die bewusstlose Frau auf den Rücken. Stehen einen Moment um sie herum. Gehen. Kommen wieder.

12.50 Uhr, Notruf: «Wir sollten den Notarzt haben, 144, und eine Polizeipatrouille. Es geht um einen möglichen versuchten Suizid.» Die Einsatzzentrale der Kantonspolizei will den Anrufer an die Sanität weiterleiten, aber der winkt ab. «Nein, einfach schicken», sagt der Anrufer, einer der Gefängnisaufseher*innen, die die bewusstlose Frau gefunden haben und dabei waren, wie sie vom Strang geschnitten wurde. «Ich kann nicht mehr sagen, als ich dir gerade erzählt habe.»

12.55 Uhr, Herzrhythmusmassage, 22 Minuten nach Beginn der Strangulation.

Um 13.04 Uhr treffen die Notärzt*innen im Untersuchungsgefängnis Waaghof ein. Für die Frau, die entblösst am Boden liegt und seit einer halben Stunde keine Regung mehr zeigt, kommt jede Hilfe zu spät.

Zwei Tage danach, am 14. Juni 2018 um 11.03 Uhr, stirbt sie auf der Intensivstation des Universitätsspitals Basel an den Folgen eines Gehirnversagens durch Sauerstoffmangel, ohne je wieder das Bewusstsein erlangt zu haben.

Denkst du an Suizid, hier findest du Hilfe:

  • Dargebotene Hand: Telefonisch 143 wählen. Anonym und rund um die Uhr.
  • Medizinische Notrufzentrale Basel-Stadt: Was tun im Notfall? 061 261 15 15
  • Zentrum für Diagnostik und Krisenintervention Akutambulanz (ab 18 Jahren) 061 325 81 81
  • Klinik für Kinder und Jugendliche der UPK Basel: 061 325 82 00

Wer was wann genau tat oder unterliess – das ist seit Sommer 2018 Gegenstand strafrechtlicher Untersuchungen und mehrerer Recherchen in verschiedenen Medien (BaZ, bz, Blick, 20 Minuten, WOZ). Im August 2021 mussten sich drei Aufseher und eine Aufseherin in Basel vor Gericht verantworten. Nach viertägigem Prozess wurden sie vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassung und Aussetzung freigesprochen. Zwar hätten die vier Beschuldigten die Sorgfaltspflicht sehr wohl verletzt (und müssen deshalb einen Teil der Verfahrenskosten tragen), doch der zwingende «hypothetische Kausalzusammenhang» sei nicht erstellt – sprich: Man könne nicht mit Sicherheit sagen, dass die Frau überlebt hätte, wenn die Aufseher*innen sie nicht rund 15 Minuten lang hätten liegen lassen.

Der Gerichtsmediziner sagte dazu vor Gericht aus, dass sich nicht mit Sicherheit sagen liesse, ob die Frau jemals wieder aufgewacht wäre, nachdem es bereits mehr als fünf Minuten gedauert hatte, bis man sie in der überwachten Sicherheitszelle entdeckte. «Zwei, drei Minuten länger (am Strang, Anm. der Red.) und sie wäre vermutlich tot gewesen.»

Gegen einen fünften Angestellten, der im Auftrag einer privaten Sicherheitsfirma für das Gefängnis tätig war, wurde keine Anklage erhoben: Er hätte die Zelle via Bildschirm überwachen sollen und bemerkte über fünf Minuten lang nicht, dass die Insassin im Begriff war, sich zu erhängen. Grund für die Nicht-Anklage: Der Angestellte sei «auch noch mit anderen Aufgaben» beschäftigt gewesen.

Die Aufarbeitung dieses Todesfalls ist damit längst nicht abgeschlossen, die zweitinstanzliche Verhandlung soll im Laufe dieses Jahres geführt werden.

Bajour und die «Republik» haben sich die Untersuchungsakten dieses Falls besorgt, sie studiert und die Geschehnisse rekonstruiert. Videoaufnahmen gesichtet, Polizeirapporte untersucht, Einvernahmen gelesen und mit Angehörigen, Freund*innen und Bekannten der Verstorbenen gesprochen.

Und je genauer wir nachzuvollziehen versuchten, wie es so weit kommen konnte, dass sich am 12. Juni 2018 eine junge Frau in einer Zelle des Basler Untersuchungsgefängnisses Waaghof das Leben nahm, desto unerträglicher wurde das Bild und desto klarer die Tatsache, dass die vier Aufseher*innen, die der Erstickenden 15 Minuten lang nicht halfen, bei weitem nicht die Einzigen sind, die sich im Zusammenhang mit dem Tod der 29-jährigen Tamilin falsch verhalten haben.

Kowsika.

Ihr Name war Kowsika.

Der erzwungene Abschied aus Sri Lanka

Kowsika wird am 9. September 1988 als fünftes von acht Kindern in Point Pedro im Norden Sri Lankas geboren, eines der Geschwister stirbt bei der Geburt. Sie geht zur Schule bis zur zehnten Klasse, verhältnismässig lange, eine gute Schülerin. Als Kowsika 12 Jahre alt ist, verlässt der Vater Frau und Kinder. Ein Taugenichts mit Alkoholproblem, sagt Kowsikas Mutter über ihn.

Die Familie zählt vier Mädchen und drei Buben. Das ist schlecht, denn für gewöhnlich sind es die Männer, die die Familie versorgen. Aber Kowsika, sagt die Mutter, sei anders gewesen als die anderen Töchter – «wie ein Sohn».

Sie meint damit: Kowsika ist die Tochter, die rausgeht, das sichere Haus verlässt, um Geld zu verdienen, die Familie zu ernähren.

In ihrer Freizeit bildet sie sich selbst weiter, besucht Kurse, lernt zu schneidern, liest viel. Gedichte und Bücher des tamilischen Lyrikers und Reformers Subramania Bharati, aber vor allem Zeitungen, die sie von der Arbeit nach Hause bringt. Manchmal liest sie der Familie daraus vor.

Schon als Kind sei sie lebhafter gewesen als ihre Geschwister und die Kinder der Nachbarschaft, sagt eine ihrer Schwestern. Und obwohl Kowsika zwei Jahre jünger sei als sie, sei sie immer ihr Vorbild gewesen. Mutig, tapfer, wissbegierig, oft am Lachen. Voller Träume und Ideen.

«Auch einzelne Buchstaben haben eine Bedeutung. Auch einzelne Bäume spenden Schatten für ein ganzes Dorf. Verzweifle nicht, wenn du alleine bist.»
Facebook-Eintrag von Kowsika auf ihrem Weg nach Europa

In Trincomalee, an der Nordostküste Sri Lankas, wo Kowsika ab 2001 mit ihrer Familie wohnt, arbeitet sie in einem Kosmetiksalon. Wenn eine Hochzeit ansteht, schminkt Kowsika die Braut in der Stube, wo sie mit ihrer Mutter und ihren kleinen Brüdern lebt.

Sie mag es, die Menschen schöner zu machen. Es ist ihr grösster Traum, eines Tages einen eigenen Salon zu betreiben. In ihrem Reisedokument, mit dem sie das Land bald verlässt, steht «Profession: Beautician».

Am 24. Januar 2017, im Alter von 28 Jahren, verlässt Kowsika ihre Heimat für immer, sie war vergewaltigt worden. Mithilfe von 3,5 Millionen Rupien soll sich Kowsika ausser Landes in Sicherheit bringen, umgerechnet auf den damaligen Gegenwert sind das mehr als 22’000 Franken. Ein gigantisches Vermögen in einem Land, wo das durchschnittliche Jahreseinkommen rund 1300 Franken beträgt. Die Familie verkauft dafür ein Grundstück in Jaffna, nahe von Point Pedro, eines in Trincomalee und Schmuckstücke der Mutter. Zusätzlich nimmt die Familie einen Kredit auf. Kowsika verspricht, alle Schulden zurückzuzahlen. Aus Europa Geld nach Hause zu schicken.

Doch zuerst strandet sie in Dubai. Die genauen Umstände sind unklar. Ihrer Familie berichtet sie nur, dass der Schlepper für Unterkunft und Essen sorgt, sie mit anderen Flüchtenden auf dem Weg nach Europa untergebracht ist. Anfang Februar schreibt sie auf Facebook: «Auch einzelne Buchstaben haben eine Bedeutung. Auch einzelne Bäume spenden Schatten für ein ganzes Dorf. Verzweifle nicht, wenn du alleine bist.»

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Ankunft in Basel – und jetzt?

Am 29. Mai 2017 stellt sie beim Migrationsamt in Basel ein Gesuch auf Asyl, knapp ein Jahr bevor sie sich im Untersuchungsgefängnis Waaghof erhängt. Einen Pass hat sie, als sie in Basel vorstellig wird, nicht mehr. Dafür ein Visum von Malta. Damit ist sie über Italien in die Schweiz gereist. Den Pass habe sie dem Schlepper abgeben müssen, sagt sie dem Migrationsamt.

Sie verschweigt den Beamten, dass sie nicht nur in Italien war, sondern auch in Frankreich bei einem entfernten Verwandten. Der nahm sie kurz auf. Doch der Platz war eng, dem Verwandten war es zu riskant, die Geflüchtete ohne Flüchtlingsstatus längerfristig bei sich aufzunehmen. Sie zog zu einer Freundin, ebenfalls in Frankreich, auch dort konnte sie nicht lange bleiben, da die Freundin mit einem Mann wohnte, mit dem sie nicht verheiratet war.

So berichtete Kowsika es ihrer Familie in Sri Lanka. Diese Konstellation könnte zu Komplikationen führen, glaubte Kowsika, die aus traditionellen tamilischen Verhältnissen stammte. Den falschen Ruf zu haben, konnte sich eine Frau nicht leisten.

So landet Kowsika Ende Mai 2017 in Basel. Sie hat Bekannte in der Schweiz – auch zwei Onkel, doch das Verhältnis ist entfremdet. Kowsika erzählt der Familie in Sri Lanka, dass sie hofft, hier in der reichen Schweiz rasch Geld zu verdienen, um die Schulden der Überfahrt zu begleichen.

Doch am 18. August 2017 entscheiden die Migrationsbehörden, dass sie auf Kowsikas Asylgesuch nicht eintreten. Am 5. September wird ihr der Entscheid mündlich eröffnet. Eine Dolmetscherin übersetzt. Kowsika muss das Land verlassen, gleichzeitig wird ein Einreiseverbot ausgesprochen. Auf die Frage des Basler Migrationsamts, ob sie verstanden habe, antwortet sie: «Ja.»

Und unter dem Titel «Rechtliches Gehör» gibt sie zu Protokoll: «Ich weiss nicht, was ich sagen soll.»

Das Scheitern einer europäischen Idee

Seit Jahren bilden Tamil*innen eine der grössten Geflüchtetengruppen, die die Schweiz erreichen. In Sri Lanka sind sie eine Minderheit, die von der singhalesischen Mehrheitsregierung unterdrückt und in vielen Fällen politisch verfolgt wird. Das halten Uno-Sonderberichte in regelmässigen Abständen fest – und warnen davor, tamilische Geflüchtete nach Sri Lanka abzuschieben. Trotzdem gilt Sri Lanka der Schweiz als «sicherer Herkunftsstaat», was den Vollzug von Wegweisungen dorthin erlaubt.

2013 schob die Schweiz zwei Tamilen nach Sri Lanka ab. Sie wurden dort noch am Flughafen festgenommen und später gefoltert.

In einem der beiden Fälle verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz im Januar 2017 zur Zahlung einer Genugtuung von 30’000 Euro. Im zweiten Fall kam es zu einer aussergerichtlichen Einigung.

Seither ist die Schweiz zumindest vorsichtiger geworden, wenn es um Abschiebungen von Tamil*innen nach Sri Lanka geht. Aber sie finden nach wie vor statt, manchmal mit verheerenden Folgen.

Als 2017 über Kowsikas Asylgesuch entschieden wird, ist sie eine von 840 Personen aus Sri Lanka, die in diesem Jahr in der Schweiz um Asyl baten. 67 Prozent werden vorläufig aufgenommen oder als «Flüchtlinge» anerkannt.

Kowsika hätte als tamilische Frau das Recht auf eine geschlechterspezifische Prüfung ihres Asylgesuchs: Die Behörden müssten berücksichtigen, dass Frauen in ihren Herkunftsländern einem besonderen Risiko ausgesetzt sind, Gewalt und Unterdrückung zu erfahren. Rein inhaltlich hätte Kowsika wohl gute Chancen, dass ihr in der Schweiz Asyl gewährt würde.

Nur: Ihr Gesuch wird gar nie inhaltlich geprüft.

«In so einem Fall geht die Schweiz gar nicht erst auf das Asylgesuch ein.»
Elena Liechti, Juristin Non-Profit-Organisation Asylex

Kowsika ist mit einem maltesischen Visum in Europa eingereist. Gemäss Dublin-Abkommen bedeutet das, dass Malta für ihr Asylgesuch zuständig ist. Dorthin soll sie nun abgeschoben werden.

«In so einem Fall geht die Schweiz gar nicht erst auf das Asylgesuch ein», sagt Elena Liechti, Juristin von der Non-Profit-Organisation Asylex, die Asylsuchende rechtlich berät. Zwar hat die Schweiz jederzeit die Möglichkeit, aus humanitären Gründen auf ein Gesuch einzutreten. «Das ist aber sehr selten der Fall», sagt Liechti. In Griechenland oder Ungarn beispielsweise fehlten gemäss Europäischem Gerichtshof passende Einrichtungen für unbegleitete Minderjährige. Bei solchen Ausschaffungen sei die Schweiz deshalb durch die Dublin-Verordnung gebunden, ohne Rücksicht auf das Einreiseland auf das Asylgesuch einzutreten.

Das Dublin-Abkommen geht auf das Jahr 1997 zurück. Damals war die EU mit ihren offenen Grenzen für Schengen-Mitgliedsstaaten zwei Jahre alt und Jugoslawien im Begriff, in blutigen Konflikten zu zerbrechen. Über 700’000 Menschen flohen nach Westeuropa, und wenn ihr Asylgesuch in einem Land abgewiesen wurde, zogen sie weiter ins nächste. Um dieser Praxis Einhalt zu gebieten, hielt das Europäische Parlament fest, dass Geflüchtete nur in dem Staat Asyl beantragen können, über den sie in den Schengen-Raum eingereist sind oder über den sie ein Visum erhalten haben.

Nicht berücksichtigt wurde dabei die Geografie.

Das Dublin-System gilt bei Expert*innen wie EU-Politiker*innen längst als gescheitert. Denn es wirkt wie ein Schutzschild für die reichen Staaten im Norden, zulasten der Grenzländer im Süden und Osten Europas – vor allem aber zulasten der Asylsuchenden.

Geflüchtetencamps wie in Lampedusa, Moria und Idomeni sind das direkte Resultat des Dublin-Abkommens, genauso wie die gewaltsamen Pushback-Aktionen an den Grenzen Kroatiens, in der Ägäis oder im zentralen Mittelmeer.

Am stärksten spüren das die Menschen in Italien und Griechenland, aber auch in Malta ist die Situation für Geflüchtete oft desolat. Prekäre Unterbringung, willkürliche Inhaftierungen, Abschiebung in nicht sichere Drittstaaten wie Libyen werden von der Menschenrechts¬kommissarin des Europarates, der Uno-Flüchtlingsorganisation UNHCR und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gleichermassen kritisiert.

Kowsika hat nur eine Chance

Kowsika soll nach Malta ausgeschafft werden, wo sie weder Familie noch ein soziales Netz hat.

Es gibt nur einen einzigen Ausweg: Wenn Kowsika sich versteckt, 18 Monate lang nicht von der Polizei aufgegriffen wird und gleichzeitig belegen kann, dass sie in dieser Zeit die Schweiz nicht verlassen hat – dann wird die Schweiz formell und inhaltlich für ihr Asylgesuch zuständig.

Kurz nach der mündlichen Entscheideröffnung vom 5. September 2017 meldet das Staatssekretariat für Migration Kowsika für einen Linienflug nach Malta an. Auf die Standardfrage, ob sicherheitsrelevante Risiken wie Selbst- oder Fremdgefährdung bestehen, heisst es in den Akten: «Nein».

Am 22. September 2017 postet Kowsika auf Facebook den Beitrag einer tamilischen Zeitung: Es geht um Depressionen und Stressvermeidung.

Am 10. Oktober geht Kowsikas Flug, Abflug um 17.40 Uhr, Ankunft um 19.55 Uhr, vom Flughafen Zürich nach Malta Luqa International. Aber als das Flugzeug abhebt, fehlt eine Passagierin. Am nächsten Tag eröffnet das Staatssekretariat für Migration eine Personenfahndung.

Kowsika ist untergetaucht.

__________

Zu den Co-Autor*innen und zur Serie

Es ist nicht das erste Mal, dass Missstände im Untersuchungsgefängnis Waaghof publik werden, als Daniel Faulhaber, damals noch Reporter bei Bajour, im Sommer 2021 zum ersten Mal von Kowsikas Fall hört. Er will der Sache auf den Grund gehen. Im Wissen, dass eine saubere Aufarbeitung alleine kaum zu bewältigen ist, kontaktiert er Republik-Reporterin Anja Conzett. Nach der Verhandlung gegen die vier Aufseher*innen sind sie sich einig, dass die Geschichte, die sie erzählen müssen, lange vor Kowsikas Suizidversuch begann.

Sie führen erste Hintergrundgespräche und treffen so auf den tamilischstämmigen Journalismusstudenten Nivethan Nanthakumar, der sich der Recherche anschliesst. Nanthakumar versucht, Kowsikas Angehörige ausfindig zu machen. Spricht mit Kowsikas Wegbegleitern in Basel, reist für Hausbesuche quer durch die Schweiz und telefoniert spätnachts nach Sri Lanka – monatelang, bis er sie findet und den Journalist*innen in der Folge Einsicht in die Untersuchungsakten gewährt wird, deren Studium weitere Monate Recherche in Anspruch nimmt.

In den anderthalb Jahren seit Recherchebeginn hat sich für die drei Autor*innen einiges verändert. Daniel Faulhaber ist unterdessen beim «Beobachter», wo er vermehrt über Justizthemen schreiben will. Anja Conzett hat ihre Festanstellung bei der Republik aufgegeben, um Vollzeit Jus zu studieren, und Nivethan Nanthakumar hat eine Ausbildung als Gerichtsdolmetscher begonnen.

Suizid im Waaghof
Die Asche der Tochter

Am Mittwoch erscheint Teil 2 der Recherche. Sie dreht sich um Kowsikas Mutter, die via Medien vom Tod ihrer Tochter erfahren hat. Und wie die Journalist*innen von Republik und Bajour plötzlich zu Zeug*innen in einem Nebenverfahren wurden.

Lies hier Teil 2
Tod im Waaghof Pulli
Plötzlich ist sie ganz still

Teil 3 geht den widersprüchlichen Haftumständen von Kowsika nach und der Frage, ob die Behörden schuld sind an ihrem Tod. Diesen publizieren wir am Freitag.

Lies hier Teil 3

Wir publizieren die Recherche gemeinsam mit der Republik in drei Teilen. Möchtest du, dass wir dir den gesamten Text, also alle drei Teile, am Freitagmorgen per E-Mail zuschicken, dann kannst du hier klicken.

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Themeninputs und Hinweise gerne an [email protected] . Twitter: @dan_faulhaber


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Bei Bajour als: Reporter und Redaktor

Hier weil: da habe ich die Freiheit, Neues anzupacken und unkonventionell zu arbeiten, ohne über sieben Hierarchiehürden zu springen. Das ist toll. Gleichzeitig macht diese Freiheit natürlich Angst, und das wiederum schweisst zusammen. Darum bin ich auch hier. Wegen des Teams.

Davor: Bei der TagesWoche und davor lange Jahre an der Uni mit Germanistik & Geschichte.

Kann: Ausschlafen.

Kann nicht: Kommas.

Liebt an Basel: Die Dreirosenbrücke. Das Schaufenster des Computer + Softwareshops an der Feldbergstrasse Ecke Klybeckstrasse. Das St. Johann. Dart spielen in der Nordtangente. Dass Deutschland und Frankreich nebenan sind.

Vermisst in Basel: Unfertigkeit. Alles muss hier immer sofort eingezäunt und befriedet und geputzt werden. Das nervt. Basel hat in vielem eine Fallschirmkultur aus der Hölle. Absichern bis der Gurt spannt. Ich bin schon oft aus Versehen eingeschlafen.

Interessensbindung: Vereinsmitglied beim SC Rauchlachs.

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