Plötzlich ist sie ganz still
Der Suizidversuch von Kowsika wird vom Gefängnispersonal als «Schauspielerei» interpretiert. In ihrem persönlichen Drama zeigt sich ein Systemversagen von Behörden und Staatsangestellten. Kowsika ist kein Einzelfall. «Tod im Waaghof», Teil 3.
Eine Warnung: Dieser Beitrag behandelt das Thema Suizidalität. Im Text werden Videoaufnahmen beschrieben, die das Geschehen zeigen.
Am Montag erschien der erste Teil unserer gemeinsamen Recherche mit der Republik. Darin geht es um Kowsikas Vergewaltigung in Sri Lanka, die sie zur Flucht bewogen hatte, um ihr abgewiesenes Asylgesuch in Basel und ihren Suizid am 12. Juni 2018 im Basler Untersuchungsgefängnis Waaghof.
Am Mittwoch erschien Teil 2 der gemeinsamen Recherche mit der Republik. Dieser dreht sich um Kowsikas Mutter, die via Medien vom Tod ihrer Tochter erfahren hat. Und wie die Journalist*innen von Republik und Bajour plötzlich zu Zeug*innen in einem Nebenverfahren wurden.
Am 9. Juni 2018 wird Kowsika in einem Einkaufszentrum in Biel festgenommen, weil sie sich illegal in der Schweiz aufhält. Zwei Tage später – am Montag, 11. Juni, um 16.40 Uhr – kommt die Tamilin in Handschellen im Untersuchungsgefängnis Waaghof in Basel an.
Im Protokoll des Gefängnisses ist dazu vermerkt: «Therapie: Valverde forte (ein pflanzliches Schlafmittel, Anm. der Red.). Gewicht, 76,9 kg. Sprachlich schwierig, spricht nur ganz wenig Englisch.»
Wie schon im Regionalgefängnis Bern prüft auch im Gefängnis Waaghof niemand, ob Kowsika die Haft physisch und psychisch überhaupt zugemutet werden kann. Dies, obwohl sich ihr Zustand rapide verschlechtert.
Kowsika wird auf Station 10 versetzt, wo sie, und nicht nur sie, eine unruhige Nacht zubringt. Gemäss Nachtjournal meldet sich um 21 Uhr die Zellengenossin bei einem Aufseher, weil Kowsika dauernd schreie und am Boden liege – sie rede wirres Zeug. Am Morgen heisst es dazu im Protokoll: «War gestern die ganze Nacht am Schreien und an die Türe poltern. Hat die ganze Station wach gehalten. Heute Vormittag wieder schreiend am Boden gelegen.»
«Wirkte manchmal wie weggetreten, sobald aber mit ihr gesprochen wurde, war dies wie weggeblasen und sie war für diese Zeit sehr aufmerksam mit normalem Blick.»Auszug aus dem Protokoll des Gefängnisses
An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken: Die Aufseher*innen, die am Morgen entscheiden, wie mit Kowsika zu verfahren sei, sind andere als die, die sich später vor Gericht verantworten müssen. Ihre Schicht beginnt entweder erst am Mittag, sie sind anderswo eingeteilt oder noch in Ausbildung.
Obwohl mehrmals in Rapporten festgehalten wird, dass die Kommunikation mit Kowsika nicht möglich sei, verständigt keiner der an diesem Morgen und in der Nacht davor für sie zuständigen Aufseher*innen den Dolmetscherdienst, der 24 Stunden am Tag erreichbar wäre. Auch den medizinischen Dienst, der zu Bürozeiten erreichbar wäre, nimmt niemand in Anspruch, ebenso wenig die mobilen Ärzt*innen, die die ganze Nacht, in der die Frau geschrien hat, zur Verfügung gestanden hätten.
Stattdessen wird Kowsika am 12. Juni um 8.40 Uhr in eine videoüberwachte Sicherheitszelle gebracht. In Isolationshaft.
Denkst du an Suizid, hier findest du Hilfe:
- Dargebotene Hand: Telefonisch 143 wählen. Anonym und rund um die Uhr.
- Medizinische Notrufzentrale Basel-Stadt: Was tun im Notfall? 061 261 15 15
- Zentrum für Diagnostik und Krisenintervention Akutambulanz (ab 18 Jahren) 061 325 81 81
- Klinik für Kinder und Jugendliche der UPK Basel: 061 325 82 00
Im Protokoll heisst es: «Ist in die Sicherheitszelle gekommen. Hat dort weiter geschrien und gejammert. Wollte Temesta nicht nehmen, trotz mehrmaligem Angebot. Wirkte manchmal wie weggetreten, sobald aber mit ihr gesprochen wurde, war dies wie weggeblasen und sie war für diese Zeit sehr aufmerksam mit normalem Blick.»
Das Gefängnis Waaghof hat standardisierte, vorgedruckte Formulare, wenn jemand physisch oder psychisch dermassen in Not geraten ist, dass sie zur eigenen Sicherheit überwacht werden muss. Auf diesem Dokument geben die Aufseher*innen Gründe an, warum jemand auf Station 14 kommt, in die Intensivüberwachung. «Nur interner Gebrauch» steht auf dem Papier. Und handschriftlich zwei Dinge:
«Massive Ruhestörung». Und: «Medizinische Gründe».
Es gibt auf dem Formular zudem ein Kästchen, es ist nicht angekreuzt: «Zur sofortigen Kenntnis an Medizinische Dienste» steht da. Und gleich daneben ist hochoffiziell ein Emoji gedruckt: ein grinsendes Gesicht, das die Zunge rausstreckt.
Insgesamt sind auf dem Formular – «Nur interner Gebrauch» – fünf Emojis abgebildet. Alle grinsen.
Kowsika beruhigt sich auch in Isolationshaft nicht. Das zeigen die Aufnahmen der Überwachungskameras. Um 10.05 Uhr, nach anderthalb Stunden in der Sicherheitszelle und zweieinhalb Stunden bevor sie sich am Fenster zu erhängen versucht, zerreisst Kowsika ihre Decke und wirft sich den abgetrennten Streifen um den Hals.
Zwanzig Minuten später öffnet sich die Zellenklappe, und Kowsika wird aufgefordert, die Decke auszuhändigen. Sie erhält eine reissfeste Decke. Suizidsichere Kleidung aber kriegt sie nicht. Niemand verständigt den medizinischen Dienst. Im Rapport ist der Vorfall als «Sachbeschädigung» vermerkt.
Die letzten drei Stunden, in denen Kowsika bei Bewusstsein ist, filmen mehrere Überwachungskameras. In diesen drei Stunden wälzt sie sich hin und her, rauft sich die Haare, schlägt mit beiden Händen auf die Brust, mit der Faust auf die Matratze, mit der Faust auf den Kopf, mit den Händen ins Gesicht. Sie wirft sich auf den Boden, tritt gegen die Wand, kniet vor dem Bett, poltert gegen die Tür, schlägt mit dem Kopf gegen die Wand. Stundenlang.
Das Video ist ohne Ton. Aber man hört fast, wie sie schreit, wie sie lauter wird und wieder leiser, bis sie irgendwann aufhört. Bis sie plötzlich ganz still ist.
Kowsika betätigt die Klingel, mit der die Sicherheitszelle gesetzmässig ausgestattet ist, damit Insass*innen in Not um Hilfe rufen können, mehrmals. Niemand reagiert. Dreimal in drei Stunden kommen die Aufseher*innen vorbei: einmal, um ihr die Decke wegzunehmen, einmal für einen Wortwechsel, einmal, um ihr das Essen hinzustellen.
«Das Erste, was mir durch den Kopf ging: Schauspielerei»
Gerichtsverhandlung in Basel, 24. August 2021, etwas mehr als drei Jahre nach Kowsikas Tod. Der Richter fragt einen der Gefängnisaufseher*innen, warum er der reglosen Insassin Wasser ins Gesicht spritzte, nachdem er und seine Kollegen sie vom Strang geschnitten hatten.
Er habe prüfen wollen, ob die Verletzung echt sei, antwortet der Aufseher. Einer der Kollegen habe dann festgestellt, dass sie Reflexe auf Wasser zeige. «Ein zuckender Muskel oder so», sagte er.
Der Aufseher: «Dann war das für mich klar, das sind Lebenszeichen. Das Erste, was mir durch den Kopf ging: Schauspielerei.»
Gericht: «Das war Ihr erster Gedanke?»
Aufseher: «Ja.»
Leena Hässig hat viele Gefängnisse von innen gesehen. Die Psychologin hat mehr als 30 Jahre lang in verschiedenen Strafvollzugseinrichtungen gearbeitet. Schwerpunkt: forensische Psychologie, Notfallpsychologie. Heute arbeitet sie mit jugendlichen Gewalttäter*innen. Sie sagt, es komme vor, dass Gefängnisinsass*innen versuchten, mit allen Mitteln Aufmerksamkeit zu erregen, um Vorteile herauszuschlagen. «Ernst nehmen», sagt Hässig, «muss das die Aufsicht trotzdem.»
Gerade bei Inhaftierten, die zum ersten Mal in der Anstalt seien und die das Personal folglich nicht kennt, dürfe man auf keinen Fall von Schauspielerei ausgehen. «Dafür fehlt jede klinische Erfahrungsgrundlage.»
«Wenn eine Insassin den Kopf an die Wand schlägt, ist das immer ein Indiz auf ein tiefes Gefühl der Ausweglosigkeit.»sagt Gefängnispsychologin Leena Hässig.
Menschen in Haft begehen deutlich öfter Suizid als der Rest der Bevölkerung. Vor allem in den ersten Tagen, in denen das Risiko einer psychotischen Episode am wahrscheinlichsten ist, ausgelöst durch einen Haftschock. Gemäss dem juristischen Fachmagazin «Plädoyer» ist die Suizidrate im Gefängnis gut achtmal so hoch wie in Freiheit. Im Waaghof haben zwischen 28. Januar 2015 und 2. Mai 2019 42 Insass*innen versucht, sich das Leben zu nehmen. Kowsika war in diesen gut vier Jahren die vierte, die in der Folge verstarb.
Hässig sagt, dass viele Insass*innen, die zum ersten Mal ins Gefängnis kommen, nicht an der Enge der Mauern zerbrechen, sondern an der Sprachlosigkeit. «Wenn eine Insassin den Kopf an die Wand schlägt, ist das immer ein Indiz auf ein tiefes Gefühl der Ausweglosigkeit», sagt Hässig. «Ein Gefühl, das sich durch die Sprachbarriere noch verstärkt.»
In einem Fall wie jenem von Kowsika müsse man alles tun, dass erstens diese Person nicht alleine sei. Und zweitens, dass sie entsprechende Hilfe erhalte.
Die Staatsanwaltschaft wirft den vier Aufseher*innen ein Fahrlässigkeitsdelikt vor, keinen Vorsatz. Die Beschuldigten hätten also Kowsikas Tod weder gewollt noch in Kauf genommen, als sie untätig blieben.
Begründet wird dieser Entscheid unter anderem am Prozess. In den Befragungen durch Staatsanwaltschaft und auch vor Gericht hätten die Beschuldigten glaubwürdig darlegen können, dass sie davon ausgegangen seien, dass Kowsika den Suizid nur simuliere. Gestützt werden die Aussagen der vier Aufseher*innen durch die Videoaufnahmen, die zeigen, wie sie reagieren, als sie nach 15 Minuten Untätigkeit Kowsika doch noch auf Lebenszeichen überprüfen: Hektisch beginnt einer mit der Herzmassage, ein zweiter rennt raus, um nach der Rettungssanität zu schauen – plötzlich scheint der Ernst der Lage klar zu sein.
Nur: Warum gehen vier Aufseher*innen 15 Minuten lang davon aus, dass eine Insassin, die sich in einer Sicherheitszelle erhängt, nur simuliert?
Fragwürdige Instruktionen
Gefängnisse sind routinierte Institutionen. Das Unvorhersehbare wird mit Mustern antizipiert. Im Waaghof gibt es ein Sicherheitskonzept, das den Aufseher*innen «als Grundlage für weitere Entscheidungen im Ereignisfall dient». Suizid ist eines der Szenarien, die darin beschrieben werden. Das Risiko wird allerdings – entgegen jeder Statistik – als «gering» eingestuft.
An einer Stelle heisst es, «Selbstgefährdung oder Selbstverletzung» sei jederzeit möglich – als spontane Reaktion, Drohung, Plan, Verhaltensmuster, Verzweiflungstat, als erpresserischer Versuch oder als Mittel zum Zweck.
Das Sicherheitskonzept beschreibt Selbstgefährdung also weitgehend so, wie die Aufseher*innen Kowsikas Suizidversuch interpretierten: als Schauspielerei.
An anderer Stelle wird das Konzept seltsam spezifisch. Demnach neigten manche Personengruppen besonders dazu, einen Suizid vorzutäuschen: «Dieses weitverbreitete (vielfach herkunftsorientierte) Verhaltensmuster mit erpresserischem Charakter wird oft als Mittel zum Zweck angewandt.» Was mit «herkunftsorientiert» gemeint ist, wird nicht ausgeführt.
Was ist das für ein System, das solche Handlungsanweisungen erlässt? Und: War das Personal im Gefängnis Waaghof geschult, mit der Situation umzugehen, die zu Kowsikas Tod führte?
«Fachwissen über Traumapsychologie ist bei Gefängnispersonal wenig verbreitet.»sagt Gefängnispsychologin Leena Hässig.
«Um im Notfall adäquat reagieren zu können, braucht es gut ausgebildetes Personal – und eine noch bessere Führung», sagt die Gefängnispsychologin Hässig. Gerade im medizinischen Bereich sei die Schulung von Gefängnispersonal allerdings unbefriedigend. «Fachwissen über Traumapsychologie ist wenig verbreitet.» Wenn keine Fachperson beigezogen werde, dann führten starre, typologische Handlungsanweisungen zu Fehlentscheidungen.
Im Gegensatz zu den vier Aufseher*innen musste sich die Gefängnisleitung bislang nicht verantworten – weder vor Gericht noch innerhalb eines internen Disziplinarverfahrens. Zwar hat gemäss Anwalt der Familie einer der Verteidiger der vier Aufseher*innen eine Strafanzeige gegen die Gefängnisleitung eingereicht, die Strafuntersuchung wurde jedoch mit Verweis auf das laufende Verfahren gegen die vier sistiert.
Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter hat den Waaghof im September 2020 routinemässig begutachtet, zwei Jahre nach Kowsikas Tod. Laut Bericht erhielt die Kommission einen positiven Eindruck von der Gesundheitsversorgung im Waaghof. Ausser von der Spezialabteilung, jener Abteilung, in der Kowsika untergebracht war.
Das Personal dort rotiere stets und sei «nicht spezifisch auf psychiatrische Vulnerabilität geschult». Ausserdem würden im Rahmen der Eintrittsbefragungen kaum geschlechterspezifische Fragen gestellt, hielt die Kommission fest. Sie empfiehlt, die Defizite zu verbessern. Aber im Sommer 2022 sorgt das Gefängnis Waaghof wieder für Schlagzeilen. Mehrere Insassen wenden sich an die «Basler Zeitung» und beklagen die Haftbedingungen. Auch die Suizide sind Thema.
Tatsächlich waren 2021 fast die Hälfte aller Todesfälle in Schweizer Gefängnissen Suizide. Acht Menschen nahmen sich in Haft das Leben. Die meisten Suizide geschehen in Untersuchungsgefängnissen wie dem Waaghof. Wie viele inhaftierte Menschen sich das Leben nehmen, weil sie ausgeschafft werden sollen, ist unklar. Das Bundesamt für Statistik erhebt diese Zahl nicht.
Für Alberto Achermann ist klar, dass die ausländerrechtliche Administrativhaft die schwierigste Haft ist, die es gibt. «Denn es handelt sich um eine hochvulnerable Gruppe von Inhaftierten», sagt der Professor für Migrationsrecht an der Universität Bern und ehemalige Präsident der Antifolterkommission.
Kowsika sollte abgeschoben werden. Aber befand sie sich überhaupt in ausländerrechtlicher Administrativhaft, als sie im Untersuchungsgefängnis Waaghof war?
Die Akten in ihrem Fall liefern dazu höchst widersprüchliche Angaben.
Ein paar Hafttitel zu viel
In der Theorie sollte in der Schweiz niemand ohne Grund inhaftiert werden. Jede Haft erhält entsprechend einen Titel, der Auskunft darüber gibt, unter welchem Regime jemand festgehalten wird und welche Rechte dem*der Inhaftierten zustehen. Und sie macht die Dauer des schweren Grundrechtseingriffs des Freiheitsentzugs für die Betroffenen absehbar.
Kowsika kommt während dreier Tage Haft auf die verblüffend hohe Zahl von fünf verschiedenen Hafttiteln:
- Die Stadtpolizei Biel beschreibt die Verhaftung am 9. Juni 2018 im Rapport als «kurzfristige Festhaltung» gemäss Ausländergesetz.
- Die Kantonspolizei Basel-Stadt hingegen, die Kowsika zwei Tage später im Untersuchungsgefängnis Waaghof empfängt, schreibt von «vorläufiger Festnahme» gemäss Strafprozessrecht wegen «Widerhandlungen BG über Ausländer».
- Am 12. Juni, drei Tage nach der Verhaftung, schreibt das Untersuchungsgefängnis Waaghof unter Haftart: «Ausschaffungshaft» nach Ausländergesetz. Was heissen würde, Kowsika hätte direkt nach Sri Lanka abgeschoben werden müssen. Von «Ausschaffungshaft» schreibt auch die Kriminalpolizei kurz darauf in einer Mitteilung an das sri-lankische Konsulat.
- Am 14. Juni, als Kowsika an den Folgen der Strangulation stirbt, schreibt die Staatsanwaltschaft Basel in einer Medienmitteilung, Kowsika hätte im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Malta geschickt werden sollen – was einer «Dublin-Haft» gleichkommen würde. Von «Dublin-Haft» ist auch am Prozess gegen die vier Aufseher*innen die Rede.
- Und im Rapport zur Spitalüberwachung von Kowsika schreibt die Basler Polizei unter Haftgrund: «Fremdenpolizeiliche Massnahmen» und weist Kowsika gleichzeitig als in Untersuchungshaft aus. Was bedeuten müsste, dass eine Staatsanwaltschaft gegen sie ermitteln würde wegen illegalen Aufenthalts.
Was stimmt? Respektive: Was stimmt nicht?
Um eine «vorläufige Festnahme», wie es die Kapo Basel angibt, kann es sich nicht gehandelt haben. Sie darf grundsätzlich nur 24 Stunden dauern. Dann muss die Person der Staatsanwaltschaft überwiesen werden. Aber weder die Berner noch die Basler Staatsanwaltschaft haben vor ihrem Tod je von Kowsika gehört.
Sicher ist deshalb auch, dass «Untersuchungshaft» falsch ist. Wenn die Staatsanwaltschaften Kowsika nicht kennen, haben sie nie gegen sie ermittelt – folglich auch keine Untersuchungshaft beantragen können.
Kowsika muss also zwangsläufig im Rahmen der ausländerrechtlichen Administrativhaft im Gefängnis gelandet sein. Und jetzt wird es erst richtig kompliziert.
Ausschaffungshaft, Dublin-Haft, Durchsetzungshaft (auch Beugehaft genannt), Vorbereitungshaft, Empfangsstellenhaft, kurzfristige Festhaltung – die Schweiz hat ein ausgeklügeltes, schier undurchschaubares System an ausländerrechtlicher Administrativhaft mit unterschiedlichen Titeln, Bestimmungen, Abläufen und Rechten.
«Wenn nicht einmal in den Akten klar ist, mit welcher Begründung Menschen eingesperrt werden, wie soll es dann für die betroffenen Personen nachvollziehbar sein?»sagt Migrationsexperte Alberto Achermann.
Dass Kowsika unter so vielen sich widersprechenden – und teils offensichtlich falschen – Titeln inhaftiert war, überrascht Migrationsexperte Alberto Achermann nicht. Es deckt sich mit den Erfahrungen, die er bei Gefängnisbesuchen als einstiger Präsident der Antifolterkommission gemacht hat. «Ich traf auf Situationen, wo niemand wusste, weshalb die Person überhaupt in Haft sass. Einmal hiess es Ausschaffungshaft, dann Polizeihaft, dann strafprozessuale Haft wegen illegalen Aufenthalts.»
Achermann schüttelt den Kopf. «Wenn nicht einmal in den Akten klar ist, mit welcher Begründung Menschen eingesperrt werden, wie soll es dann für die betroffenen Personen nachvollziehbar sein?»
Ein Hausarrest hätte gereicht
Jedes Land des Schengenraums kennt in der einen oder anderen Form die ausländerrechtliche Haft. Wichtig ist: Menschen in ausländerrechtlicher Haft sind keine Kriminellen – und werden auch keines Delikts bezichtigt. Sie sitzen nicht zur Strafe oder zu Ermittlungszwecken im Gefängnis, sondern einzig deshalb, damit die Behörden eine administrative Massnahme durchsetzen können, zum Beispiel eine Wegweisung.
Das muss sich auch in den Haftbedingungen widerspiegeln, wie internationale Abkommen unmissverständlich festhalten. «Eigentlich sollte die Haft wie ein Aufenthalt in einem einfachen Hotel gestaltet sein, mit möglichst wenig Einschränkungen», sagt Achermann. «Im Vordergrund steht Betreuung, nicht Sicherheit.»
Diesen Personen in ausländerrechtlicher Administrativhaft sollten also mehr Freiheiten zustehen: mehr Möglichkeiten zur Freizeitbeschäftigung, Bewegung an der frischen Luft, Zugang zur Aussenwelt, etwa über ein Mobiltelefon. Ausserdem dürfen Menschen in Administrativhaft nicht mit strafprozessualen Inhaftierten untergebracht werden, etwa im regulären Vollzug oder im Untersuchungsgefängnis. Im besten Fall werden administrativ Inhaftierte in sogenannten Ausschaffungsgefängnissen untergebracht. In Ausnahmefällen – und nur vorübergehend und nur für kurze Zeit – können sie in anderen Haftanstalten untergebracht werden, müssen dort aber in einem räumlich klar separierten Gebäudeteil inhaftiert sein.
Im Sommer 2018, in dem Kowsika verhaftet wird, sieht die Sache jedoch ganz anders aus.
Bei einer Schengen-Evaluation stellt die zuständige EU-Kommission zu dieser Zeit fest, dass die Schweiz die seit 1995 geltenden Gesetze nur sehr ungenügend einhält. Die Schweiz wird angehalten, umgehend Verbesserungen einzuleiten: Sie soll das Trennungsgebot strikter einhalten, mehr Haftplätze in speziellen Einrichtungen schaffen, besser ausgebildetes Personal einstellen, um der besonderen Verletzlichkeit der administrativ Inhaftierten gerecht zu werden.
Hoi, ich bin Andrea Fopp, Chefredaktorin von Bajour und ich freue mich, dass du diesen Artikel bis hier gelesen hast. Kennst du schon das Inside-Bajour-Mail? Wenn du dich registrierst, dann schicken wir dir einmal pro Monat ein Update mit unseren besten Recherchen und darüber, was sonst noch so passiert bei unserem Medien-Startup. Hier kannst du dich anmelden.
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Wäre Kowsika ein Mann gewesen, wäre sie nicht im Waaghof gelandet, sondern im Bässlergut, einem auf ausländerrechtliche Administrativhaft ausgerichteten Ausschaffungsgefängnis. Doch obwohl in Administrativhaft der Frauenanteil höher ist als in strafprozessualer Haft, verfügen die wenigsten Kantone über genügend Plätze für Frauen. Deshalb landen sie oft im falschen, zu harten Haftregime. Oder sie sind in Administrativhaft die einzige Frau und enden wegen des Trennungsgebots auf unbestimmte Zeit faktisch in der Einzelhaft – die aufgrund der schweren Folgen für die psychische Gesundheit der Betroffenen selbst als Disziplinarmassnahme höchst umstritten ist.
Kurz: Im Juni 2018 ist die rechtliche Situation in der Schweiz bezüglich der Administrativhaftbedingungen unhaltbar. Und genau in dieser Situation findet sich Kowsika wieder.
Im Untersuchungsgefängnis Waaghof wird sie nicht nur entgegen den Vorschriften mit strafprozessual Inhaftierten zusammengelegt, sondern auch im Regime der Untersuchungshaft festgehalten, dem härtesten Haftregime also. Entgegen internationalen Abkommen und Schweizer Gesetzgebung. Bar jeder Verhältnismässigkeit.
«Man hätte sie unter Hausarrest stellen, sie in der Nothilfe unterbringen oder mit einer Fussfessel versehen können», sagt Achermann. «Aber Alternativen zur Haft, die dem Prinzip der Verhältnismässigkeit entsprechen würden, werden oft gar nicht erst diskutiert.»
Unverhältnismässige Eingriffe in die persönliche Freiheit sind per se widerrechtlich. Doch war das das einzig Widerrechtliche an Kowsikas Haft?
Sie hätte auf freiem Fuss sein müssen
War Kowsika im Sommer 2018 im Untersuchungsgefängnis Waaghof also vielleicht in «Ausschaffungshaft», wie es die Entlassungsanzeige behauptet? Oder in «Dublin-Haft»?
Beide Hafttitel müssen zwingend vom zuständigen Migrationsamt angeordnet werden. Dieses muss der Betroffenen den Entscheid persönlich eröffnen und ihr rechtliches Gehör gewähren. Aber das Migrationsamt hat Kowsika nach ihrer Verhaftung nicht befragt. So steht es in der Medienmitteilung der Staatsanwaltschaft zu ihrem Tod. Und das bestätigen auch die Akten des Migrationsamtes: Eine Haftanordnung findet sich dort nicht.
Folglich ist die Stadtpolizei Biel die einzige Instanz, die Kowsikas Haft den richtigen Titel gab: «kurzfristige Festhaltung» nach Ausländer- und Integrationsgesetz.
Diese Haft dient erstens dazu, die Identität einer Person abzuklären, die keinen gültigen Aufenthaltsstatus hat. Und zweitens, eine Verfügung im Zusammenhang mit ihrem Aufenthaltsstatus zu eröffnen. Sie darf maximal 72 Stunden dauern. Drei Tage also.
Kowsika aber wird am 9. Juni festgenommen, um 12.22 Uhr in einem Einkaufszentrum in Biel. Drei Tage und 12 Minuten später, um 12.34 Uhr, erhängt sie sich in ihrer Sicherheitszelle im Untersuchungsgefängnis Waaghof in Basel. Das bedeutet: Als Kowsika versucht, sich das Leben zu nehmen, hatte der Staat keine rechtliche Grundlage, sie festzuhalten. Kowsika hätte seit knapp einer Viertelstunde auf freiem Fuss sein müssen.
«Alternativen zur Haft, die dem Prinzip der Verhältnismässigkeit entsprechen würden, werden oft gar nicht erst diskutiert.»sagt Migrationsexperte Alberto Achermann.
Das wirft bittere Fragen auf: Wäre Kowsika noch am Leben, hätte bezüglich ihres Hafttitels nicht so ein Chaos geherrscht? Hätte Kowsikas Mutter ihre Tochter noch, wenn die verantwortlichen Beamt*innen von Gefängnis, Migrationsamt und Polizei gewissenhaft und mit der gebotenen Sorgfalt gearbeitet hätten?
Es war kein Bilanzsuizid, sondern ein Affektsuizid, ausgelöst durch die Haft, sagt der vorsitzende Richter im Spätsommer 2021, als er das Urteil gegen die vier Aufseher*innen verliest, die Kowsika rund eine Viertelstunde lang nicht geholfen haben.
Hat der Richter recht, dann war Kowsikas unrechtmässige Haft für ihren Tod verantwortlich.
Und das wirft weitere Fragen auf: Wer ist dafür verantwortlich, dass Kowsika zum Zeitpunkt ihres Suizidversuchs in einer Isolationszelle war statt allerspätestens seit einer Viertelstunde in Freiheit? Haben zuständige Beamte möglicherweise gar billigend in Kauf genommen, dass Kowsika länger als gesetzlich erlaubt in Haft gehalten wird?
Wenn ja, handelt es sich, rechtlich ausgedrückt, um eine Freiheitsberaubung gemäss Artikel 183 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs. Eine Freiheitsberaubung durch Staatsbeamt*innen. Eine Freiheitsberaubung mit tödlichem Ausgang.
Eins ist sicher: Verantworten musste sich bislang niemand dafür. Das Offizialdelikt der Freiheitsberaubung wurde noch nicht einmal untersucht.
Warum wir von einer staatlichen Freiheitsberaubung sprechen
2021 hat das Bundesgericht einen Entscheid gefällt, der auch für diesen Fall von grosser Relevanz ist: Die höchstrichterliche Instanz entschied, dass der Kanton Graubünden rechtswidrig handelte, indem er eine Frau 45 Stunden lang unter dem Titel der kurzfristigen Festhaltung gemäss Art. 73 AIG festhielt, bevor die Frau in den zuständigen Kanton überstellt wurde. Rechtswidrig, da die Frau bei der Abklärung ihrer Identität kooperativ war. 45 Stunden – 3 Stunden weniger also, als Kowsika in Bern festgehalten wurde, bevor man sie nach Basel überstellte, obwohl Kowsikas Identität bereits bei ihrer Verhaftung in Biel geklärt war.
Kowsikas Haft war demnach, schon als sie in Basel ankam, unverhältnismässig und daher rechtswidrig. Das kann als erstellt angeschaut werden.
Unsere Recherchen haben aber zusätzlich ergeben, dass Kowsika zum Zeitpunkt ihres Suizidversuchs überdies ohne rechtliche Grundlage vom Staat festgehalten wurde – weshalb wir von einer staatlichen Freiheitsberaubung sprechen.
Diese Frage ist jedoch juristisch ungeklärt. Es gibt eine einzige Variante, die Kowsikas Haft zum Zeitpunkt ihres Suizidversuchs rechtfertigen könnte. Dazu müsste es gesetzlich zulässig sein, dass die ausländerrechtliche 72-stündige Frist der «kurzfristigen Festhaltung» gemäss Art. 73 Abs. 2 AIG durch eine strafprozessuale «vorläufige Festnahme» wegen Aufenthalts ohne Bewilligung gemäss Art. 217 ff. StPO in Verbindung mit Art. 115 Abs. 1 lit. b AIG unterbrochen wird und die verbleibenden Stunden der kurzfristigen Festhaltung nach diesem Unterbruch wiederum angehängt werden könnten.
Eine solche Unterbrechungsmöglichkeit würde bedeuten, dass einer Person ohne Aufenthaltsbewilligung bis zu 96 Stunden das rechtliche Gehör in Form einer Hafteinvernahme oder Befragung durch das Migrationsamt verweigert werden könnte – ganz zu schweigen von einer Anhörung vor Gericht.
Eine bundesgerichtliche Rechtsprechung dazu gibt es nicht. Was es aber gibt, sind die Botschaften zur kurzfristigen Festhaltung sowie der vorläufigen Festnahme und mehrere Entscheide des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bezüglich der maximalen Fristen bis zur Gewährung des rechtlichen Gehörs. Nach Sichten dieser Unterlagen sind wir zum Schluss gekommen, dass eine Unterbrechung der kurzfristigen Festhaltung durch eine vorläufige Festnahme weder richtig noch Recht sein kann.
Noch am selben Tag, an dem sich Kowsika in ihrer Zelle erhängt, beginnt die Kantonspolizei Basel-Stadt zu ermitteln. Im Rapport schreibt sie: «Der betroffenen Person wurde gestern mitgeteilt, dass sie ausgeschafft wird, seither schrie sie herum und machte Lärm.»
Nur: Das stimmt nicht.
Kowsika wurde während ihrer Zeit nie mitgeteilt, dass sie ausgeschafft werde. Weder vom Migrationsamt noch vom Gefängnispersonal, das sich nach eigenen Angaben nicht mit ihr verständigen konnte – und überdies auch nicht dazu befugt gewesen wäre.
Wie kommt der Polizeibeamte also dazu, das in den Rapport zu schreiben? Warum fällt den Strafverfolgungsexpert*innen der Polizei und der Staatsanwaltschaft nicht schon damals auf, was Jahre später drei Journalist*innen bemerken: dass Kowsika zum Zeitpunkt ihres Suizidversuchs illegal im Gefängnis Waaghof festgehalten wurde?
«Selbstverständlich unterstützt die Kantonspolizei die Strafverfolgungsbehörde bei den Ermittlungen und ist interessiert an einer Aufklärung der Todesumstände.»Stellungnahme der Kantonspolizei Basel-Stadt, die aufgrund des laufenden Verfahrens nicht mehr sagen kann.
Zumindest einer Basler Behörde muss das aufgefallen sein.
Am 12. Juni um 15 Uhr, zwei Stunden nachdem Kowsika komatös auf die Intensivstation des Universitätsspitals gebracht wurde und fast drei Stunden nachdem sie aus der Haft hätte entlassen werden müssen, setzt die Haftleitstelle der Kantonspolizei Basel-Stadt eine Entlassungsanzeige auf: «Folgende Person ist unverzüglich aus dem Gefängnis zu entlassen»: Kowsika.
Veranlasst wird die Entlassung von einem Mitarbeiter des Basler Migrationsamts.
Wir wollten vom Migrationsamt wissen, mit welcher rechtlichen Begründung Kowsika nicht in der gesetzlich vorgesehenen Frist das rechtliche Gehör gewährt wurde. Und erhielten keine Antwort, da das zuständige Departement davon ausgeht, dass die von uns gestellten Fragen auch vor Gericht eine Rolle spielen werden, und man als Behörde nicht vorgreifen wolle.
Von der Staatsanwaltschaft wollten wir wissen, ob sie die Rechtmässigkeit von Kowsikas Haft zum Zeitpunkt ihres Suizidversuchs untersucht habe. Und erhielten die Antwort, dass Fragen zur Rechtmässigkeit der Haft dem Migrationsamt gestellt werden sollten, über das die Staatsanwaltschaft keine Aufsichtsfunktion habe. Ausserdem: «Die Rechtmässigkeit einer ausländerrechtlich angeordneten Haft können Betroffene oder ihre Rechtsvertretungen gerichtlich überprüfen lassen.»
Von der Kantonspolizei wollten wir wissen, wie ihr Ermittler dazu kommt, in seinem Rapport offensichtlich falsche Angaben zu machen, wenn er schreibt, man habe Kowsika mitgeteilt, sie werde ausgeschafft. Eine Antwort haben wir mit Verweis auf das laufende Verfahren nicht bekommen. Nur so viel: «Selbstverständlich unterstützt die Kantonspolizei die Strafverfolgungsbehörde bei den Ermittlungen und ist interessiert an einer Aufklärung der Todesumstände.»
Kein Einzelfall
Vier Aufseher*innen werden sich demnächst im Berufungsverfahren erneut vor Gericht verantworten müssen, weil sie einer sterbenden Frau in ihrer Obhut rund eine Viertelstunde lang keine Hilfe geleistet haben.
Das ist richtig so. Nur: Ist das genug?
Haben alle anderen Behörden und Staatsangestellten, mit denen Kowsika in den letzten Tagen ihres Lebens in Berührung kam, ihre Rechte gewahrt? Nach Treu und Glauben gehandelt? Die Gesetze befolgt?
Oder wurden nicht an zu vielen Stellen in Kowsikas Fall Fehler gemacht, als dass man die Umstände ihres Todes ausschliesslich auf individuelles Versagen zurückführen könnte?
«Was dieser Fall illustriert, ist eine institutionalisierte Haltung der Gleichgültigkeit. Eine Gleichgültigkeit gegenüber inhaftierten Menschen allgemein», sagt Anwalt Philip Stolkin, der Kowsikas Mutter und Schwester vertritt. «Vor allem aber gegenüber Menschen, die inhaftiert werden, weil wir ihnen als Schweiz das Recht, zu bleiben, absprechen – Menschen, die nichts verbrochen haben. Es ist struktureller Rassismus, der Kowsika getötet hat.»
«Kowsika ist ein Extremfall. Aber kein Einzelfall», sagt Moreno Casasola von der Freiplatzaktion Basel. «Was ihr widerfahren ist – die unzureichende Information, das fehlende Überbrücken der Sprachbarriere, das mangelnde Verantwortungsgefühl staatlicher Institutionen gegenüber Menschen, die aufgrund der geltenden Gesetze in die Illegalität gedrängt werden –, das hat System.»
«Das ist eine Erfahrung, die man macht, dass es oft einen traurigen Einzelfall braucht, damit sich etwas ändert», sagt Migrationsrechtsexperte Alberto Achermann.
«Die ausländerrechtliche Administrativhaft ist nach wie vor darauf ausgerichtet, den Willen der Menschen, sich hier eine Existenz aufzubauen, zu brechen.»sagt Elena Liechti, Juristin bei der Rechtsberatungsstelle Asylex.
Seit 2018 haben sich ein paar Dinge geändert.
Das Gefängnis Waaghof hat neue Weisungen herausgegeben, in denen Suizidalität unter Insass*innen anders gewichtet wird. Das Wort «herkunftsorientiert» als Begründung für erpresserische Täuschungen in Haft ist aus dem Reglement verschwunden. Dazu kommen klarere Abläufe und Anweisungen für Notfallsituationen und eine bessere Schulung des Personals.
Das Bundesgericht hat im Jahr 2020 ein Urteil gefällt, das das seit 17 Jahren geltende Trennungsgebot noch einmal klar implementiert. Seit 2021 werden im Untersuchungsgefängnis Waaghof deshalb keine weiblichen Personen in Administrativhaft mehr untergebracht. Mit einer Ausnahme: der kurzfristigen Festhaltung. Wir wollten vom Gefängnis Waaghof wissen, wie das Trennungsgebot umgesetzt wird. Und erhielten vom zuständigen Departement keine Antwort. Nur dass es umgesetzt werde. Zumindest seit 2021.
«Selbst wenn das zutreffen sollte – bei unserer Arbeit in anderen Kantonen stellen wir immer wieder fest, dass Menschen in Administrativhaft im falschen Haftregime und unter falschen Voraussetzungen inhaftiert werden», sagt Elena Liechti, Juristin bei der Rechtsberatungsstelle Asylex. Vor kurzem hat eine ihrer Klient*innen Suizid begangen, nachdem sie aus der Schweiz abgeschoben worden war. Ein weiterer Tod, der in der Schweiz in keiner Statistik auftaucht.
«Die ausländerrechtliche Administrativhaft ist nach wie vor darauf ausgerichtet, den Willen der Menschen, sich hier eine Existenz aufzubauen, zu brechen. Und es ist uns als Staat schlicht egal, wie und ob diese Menschen den Bruch überleben», sagt Liechti.
Eine ganze Liste von Fehlern
Selbstbewusst war Kowsika. Voller Leben. So beschreiben sie ihre Mutter und ihre Schwester. Unerschrocken und mutig. Eine Kämpferin, die nicht nur für sich selbst Verantwortung übernahm, sondern auch für die Menschen um sich herum.
Aber unter genügend Druck geben auch die breitesten Schultern nach. Der Druck kann viele Formen annehmen. In diesem Fall ist es eine ganze Liste.
Eine internationale Migrationspolitik, die als gescheitert gilt und doch Bestand hat. Polizist*innen und Aufseher*innen, die keine Dolmetscher*innen beiziehen, um die Personen in ihrer Obhut über ihre Rechte aufzuklären. Das Trauma eines ganzen Volkes, der tamilischen Bevölkerung, das bis heute nicht anerkannt wird. Ein Gefängnis, das fragwürdige Anleitungen an ihre Mitarbeiter*innen verteilt. Gefängnisse, die die psychologische Betreuung ihrer Insass*innen als vernachlässigbar erachten. Gefängnisse, in denen niemand genau weiss, weshalb jemand eingesperrt ist. Kantonspolizist*innen, die ohne rechtliche Grundlage Hafttitel aussprechen. Ein Staat, der sich über Jahre nicht an die Minimalstandards bindender Abkommen hält. Ein kantonales Migrationsamt, das rechtsstaatliche Prinzipien missachtet, wie das rechtliche Gehör fristgerecht zu gewähren.
All diese Stränge laufen am 12. Juni 2018 zusammen und drehen sich zu einem Strick, an dem sich eine 29-jährige Tamilin in einer Sicherheitszelle in einem Schweizer Gefängnis erhängt.
Ihr Name war Kowsika.
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Zu den Co-Autor*innen und zur Serie
Es ist nicht das erste Mal, dass Missstände im Untersuchungsgefängnis Waaghof publik werden, als Daniel Faulhaber, damals noch Reporter bei Bajour, im Sommer 2021 zum ersten Mal von Kowsikas Fall hört. Er will der Sache auf den Grund gehen. Im Wissen, dass eine saubere Aufarbeitung alleine kaum zu bewältigen ist, kontaktiert er Republik-Reporterin Anja Conzett. Nach der Verhandlung gegen die vier Aufseher*innen sind sie sich einig, dass die Geschichte, die sie erzählen müssen, lange vor Kowsikas Suizidversuch begann.
Sie führen erste Hintergrundgespräche und treffen so auf den tamilischstämmigen Journalismusstudenten Nivethan Nanthakumar, der sich der Recherche anschliesst. Nanthakumar versucht, Kowsikas Angehörige ausfindig zu machen. Spricht mit Kowsikas Wegbegleitern in Basel, reist für Hausbesuche quer durch die Schweiz und telefoniert spätnachts nach Sri Lanka – monatelang, bis er sie findet und den Journalist*innen in der Folge Einsicht in die Untersuchungsakten gewährt wird, deren Studium weitere Monate Recherche in Anspruch nimmt.
In den anderthalb Jahren seit Recherchebeginn hat sich für die drei Autor*innen einiges verändert. Daniel Faulhaber ist unterdessen beim «Beobachter», wo er vermehrt über Justizthemen schreiben will. Anja Conzett hat ihre Festanstellung bei der Republik aufgegeben, um Vollzeit Jus zu studieren, und Nivethan Nanthakumar hat eine Ausbildung als Gerichtsdolmetscher begonnen.
Hoi, ich bin es nochmal, Andrea Fopp, Chefredaktorin von Bajour und ich freue mich, dass du diesen Artikel komplett gelesen hast. Kennst du schon das Inside-Bajour-Mail? Wenn du dich registrierst, dann schicken wir dir einmal pro Monat ein Update mit unseren besten Recherchen und darüber, was sonst noch so passiert bei unserem Medien-Startup. Hier kannst du dich anmelden.
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