Der 5-Punkte-Plan der Junkies

Wer eine offene Drogenszene verhindern will, fragt am besten die Süchtigen, was es braucht, damit sie in den dafür vorgesehenen Einrichtungen konsumieren. Bajour hat mit mehreren Drogenkonsument*innen gesprochen. Das sind ihre fünf konkreten Vorschläge, was sich ändern muss.

Symbolbild Kokain
Symbolbild

Die erste Line Koks zog Melanie* vor 20 Jahren in einem Club in der Steinen. Das mache sie fit, hat der Barkeeper ihr gesagt, denn sie musste am Tag darauf an einen Kongress. Und Melanie merkte, wie ihr die bewusstseinserweiternden Episoden der Droge gefielen. Nur zwei Wochen später fing sie an, Kokain aufzukochen und zu rauchen.

Mit einem mehrjährigen Unterbruch ist die Endvierziegerin aus dem Kleinbasel seitdem süchtig, bis vor kurzem spritzte sie sich «Kola», wie man Koks in der Szene auch nennt. Sie bezeichnet sich selbst als «Junkie, aber nicht auf den Kopf gefallen». Gerade weil sie die Szene so gut und lange kennt, ist sie schockiert, wie sich die Situation seit rund einem halben Jahr verändert hat. 

Spätestens seit der Petition von Menschen aus dem Matthäus-Quartier, die Toleranzzonen für Dealer*innen fordern, wird heftig und besorgt diskutiert, wie man diesem Problem begegnen kann. Die Regierung hat 18 Monate Zeit, auf die Ende September eingereichte Petition zu antworten. Die bisherigen Ideen verlaufen weitgehend abstrakt und oft entlang ideologischer Leitplanken. Viele fordern, dass die über Jahrzehnte funktionierende Vier-Säulen-Politik aus Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression weiterentwickelt werden muss. 

Drogen, Dealerzone Kleinbasel
Die geforderten Toleranzzonen wurden auf dem Boden markiert. (Bild: David Rutschmann)

Gesprochen wird dabei vor allem über den vierten Punkt, Repression. Zum Beispiel über eine Ausweitung der Videoüberwachung, mehr Polizeipräsenz in den Quartieren und polizeiliche Platzverweisen. Doch in dem Diskurs fehlt bislang eine ganz konkrete Stimme: die der betroffenen Drogenkonsument*innen selbst. «Repression würde nur noch mehr Schaden anrichten und Drogenabhängige weiter in die Illegalität treiben», sagt etwa Melanie. 

Melanie heisst eigentlich anders, wir verwenden ein Pseudonym, um sie zu schützen. Bajour hat mit vielen Menschen aus Basel gesprochen, die seit Jahrzehnten Drogen konsumieren. Sie alle berichten von Veränderungen des Markts und der Qualität der Drogen – und fordern, es müsse sich etwas ändern. Denn im Stillen häufen sich auf den Gassen wieder die Drogentoten. Diese Krise geht weiter, auch wenn es jetzt wieder kalt wird und die Süchtigen nicht mehr in den Quartieren draussen konsumieren.

Selbst als jahrelange Kokain-Konsumentin mit umfassenden Kenntnissen von der Szene und dem Schwarzmarkt ist Melanie schockiert, wie sich die Situation seit rund einem halben Jahr verändert hat. «Ich beobachte bei vielen Leuten psychologische Veränderungen. Sie sind skrupelloser, aggressiver geworden.»

FragedesTages_Toleranzzonen
Frage des Tages vom 18. September

Es wurde als Hilfeschrei aus der Bevölkerung wahrgenommen: Die Mitte September lancierte Petition aus dem Matthäusquartier, die eine Art Duldungszone für Drogendealer*innen ausserhalb des Wohnquartiers fordert. Schlagartig wurde in der gesamten Stadt über die Drogenszene im Kleinbasel diskutiert. Wir haben die Forderung der Petiton für unsere Frage des Tages aufgenommen. Hier kannst Du die Debatte nachlesen.

Zur Diskussion

Horst Bühlmann von der Suchthilfe Region Basel macht dafür im Gespräch mit Bajour den aktuellen Drogenmix verantwortlich. Das kann Melanie bestätigen: «Das Zeug steigt Dir direkt in den Kopf. Viele mischen Koks mit Heroin, damit sie wieder runterkommen.» Das bestätigen alle Drogenabhängigen, mit denen wir gesprochen haben, die aber lieber anonym bleiben wollen. Viele haben Angst, drangsaliert zu werden, wenn sie auf Missstände aufmerksam machen. Oder aber sie befürchten berufliche Konsequenzen. 

Sie gehören zur «Alten Garde», so nennt man die Drogenabhängigen, die schon so lange dabei sind, dass sie noch Teil der offenen Drogenszene in Zürich auf dem Platzspitz und am Basler Rheinufer in den 90ern waren. Sie berichten, das Kokain sei im Vergleich zu damals stärker geworden, Heroin hingegen eher ein bisschen schwächer – deshalb sei Kokain heute auch beliebter. 

Hinzu kommt laut den Süchtigen ein radikaler Preisverfall auf dem Schwarzmarkt. Die Grammpreise seien heute wesentlich geringer als früher. Dafür seien mehr Streckmittel im Umlauf, nicht wenige davon sind gefährlich. Melanie berichtet von einem Vorfall mit Crocodile, also billigem Koks aus Russland, das mit Batteriesäure gemischt war – der Trip endete für sie im Spital.

Efringerstrasse Drogen
In dieser verwahrlosten Liegenschaft an der Efringerstrasse wohnen Süchtige und wird gedealt – es ist ein bekannter Treffpunkt der Szene. (Bild: David Rutschmann)

Sie ist nicht die einzige, die von solchen Vorfällen auf der Gasse berichtet. Viele beobachten in der Szene seit einer Weile mehr Fälle von Lungenentzündungen und Blutvergiftungen. Das Kondolenzbuch für die Drogentoten in der Kontakt- und Anlaufstelle (K+A) für 2023 war bereits im Mai halb gefüllt.

Klar ist für viele der Gesprächspartner*innen: Auf den Gassen herrscht eine Gesundheitskrise. Die genaue Ursache kennt man noch nicht.

«Es ist eine Katastrophe», sagt Melanie. Und sie fürchtet noch Schlimmeres: Dass bald auch Fentanyl grossflächig in der Schweiz ankommen könnte. Die Anzahl Drogentoter in den USA hat sich wegen Fentanyl in fünf Jahren verdoppelt. «Das müssen wir verhindern. Und dazu muss die Szene jetzt zusammenstehen», sagt sie.

Basler Drogenstammtisch Teaser
Basler Drogenstammtisch 2.0

Von Heroin zu Kokain: Der Drogenkonsum hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Erfordern die Entwicklungen eine Anpassung der Drogenpolitik? Um dieser Frage nachzugehen, lässt Bajour gemeinsam mit dem Stadtteilsekretariat Kleinbasel ein bewährtes Konzept aus den 1990er-Jahren aufleben. An einem Drogenstammtisch besprechen die wichtigsten Expert*innen sowie Vertreter*innen aus der Politik, darunter Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann, mit der Quartierbevölkerung, wo der Schuh drückt und welche Lösungen es gibt. Der Eintritt ist frei, die Platzzahl ist beschränkt.

Wann: Mittwoch, 25.10.2023, 19 bis 20:30 Uhr

Wo: Rheinfelderhof, Hammerstrasse 61 4058 Basel

Moderation: Martina Rutschmann

Für Melanie gehören dringende Anpassungen bei den K+A zum Lösungsansatz. Es sind jene Orten, die als zentrale Errungenschaft der grossen Diskussionen über die Schweizer Drogenpolitik in den 90ern gelten, weil sie einen sicheren Rahmen für Drogenkonsum geschaffen haben. Doch aus Sicht der Drogenabhängigen gibt es Handlungsbedarf. Folgende Probleme sieht sie:

1. Die Öffnungszeiten anpassen

Die K+A am Riehenring und auf dem Dreispitz sind zwischen 10:30 und 22 Uhr geöffnet. «Manche Konsumenten sind von morgens bis abends da», sagt Melanie. In den verbleibenden zwölf Stunden hörten die Drogenabhängigen aber nicht auf, drogenabhängig zu sein. Am Abend weichen sie deshalb auf szenebekannte Häuser aus – oder halten sich draussen auf. «Wer ein Craving hat, also ein akutes Bedürfnis nach einer Droge, kann auch nicht einfach schlafen.» Darum sollten betreute Aufenthaltsräume mit Konsummöglichkeiten über die ganze Nacht das bestehende Angebot ergänzen

Darüber wird auch bei der Suchthilfe Region Basel, Betreiberin der K+A, nachgedacht. Das bestätigt Geschäftsführerin Barbara Held auf Anfrage: «Konkret beschlossen ist allerdings noch nichts.» Man stehe hierzu im Austausch mit der Abteilung Sucht des Gesundheitsdepartements Basel-Stadt. Dort heisst es, das Konzept der K+A werde derzeit evaluiert.

Drogen Öffnungszeiten Efringerstrasse
In der Liegenschaft an der Efringerstrasse wurden im Gang die Öffnungszeiten der Gassenzimmer an die Wand gekritzelt. (Bild: David Rutschmann)

2. Zugang für alle Konsument*innen – auch aus dem Ausland

Melanie sagt, die K+A würden nur Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz offenstehen. Viele Drogenabhängige haben jedoch keinen Wohnsitz. Ihnen wird der Zugang erschwert. Süchtigen aus dem nahen Ausland, zum Beispiel Frankreich, die sich wegen der Szene in Basel aufhalten, stehen die K+A nicht zur Verfügung. «Sie hängen dann vor den K+A ab und konsumieren im öffentlichen Raum.»

Barbara Held von der Suchthilfe Region Basel erklärt, dass der Zugang zu den K+A im Vergleich zu den Angeboten in anderen Schweizer Städten liberaler sei. In Bern und Zürich ist der Zugang nur für Personen mit Wohnsitz in der jeweiligen Region erlaubt, in Basel sei man offener – weil die K+A eben von allen Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz genutzt werden können. Doch im Dreiländereck umfasst die Drogenszene eben auch Menschen aus Frankreich und Deutschland.

3. Hygiene und medizinische Kenntnisse verbessern

Melanies Beobachtung ist, dass die notwendigen Hygienemassnahmen nicht immer vollends eingehalten werden. Sie vermutet, nicht das komplette Personal sei medizinisch geschult worden. Es gibt auch Gerüchte über Infektionen mit Streptokokken und Staphylokokken, die wegen unhygienischem Konsum übertragen werden. Melanie sagt, solche Informationen zu Gerüchten würden in den K+A nicht kommuniziert.

Barbara Held von der Suchthilfe widerspricht der Darstellung: Sehr wohl werde auf sicheren Konsum hingewiesen. «Das Ansteckungsrisiko in den K+A ist massiv geringer als im privaten Umfeld», sagt sie und verweist auch auf die gesunkene Sterblichkeit, seit es K+A gebe. Medizinische Grundkurse werden mehrmals pro Jahr durchgeführt und sind verpflichtend für alle Mitarbeitenden der K+A.

Gereinigt werden die K+A täglich, die Konsumplätze sogar jeweils nach der Nutzung, so Held. Ein Drogenabhängiger sagt: «Wenn das wirklich stimmt, dass jeden Tag gereinigt wird, dann macht die Reinigung einen scheiss Job.»

Darüber hinaus kritisiert er, dass es in den K+A keine Duschen gibt, mit denen die Hygiene der Konsument*innen gewährleistet werden könnte. Held erklärt dazu, sanitäre Anlagen mit Dusche seien derzeit aus Platzgründen nicht möglich – infrastrukturelle Anpassungen würden aber in Betracht gezogen.

K+A Drogen
Hygienemängel in den K+A. Flecken auf dem Boden gibt es an verschiedenen Stellen. (Bild: zVg)

4. Hochwertiges Material

Melanie erzählt darüber hinaus, in den K+A werde minderwertiges Material zur Verfügung gestellt: «Neue Nadeln für die Spritzen sehen manchmal echt nicht neu aus. Ich habe welche gesehen, die Widerhaken haben, an denen man sich verletzen könnte.» Das berichten auch andere Drogenabhängige, die in den K+A konsumieren. Einer behauptet, sich damit die Venen kaputt gemacht zu haben.

Barbara Held weist diesen Vorwurf nicht zurück, auch wenn ihr keine Berichte von solch gefährlichen Nadeln bekannt sind. Ein Problem sei allerdings, dass die Nachfrage nach medizinischem Material seit der Corona-Pandemie insgesamt stark gestiegen sei – und das Angebot ist knapp: «Wir konnten uns plötzlich nicht mehr auf unsere langfristige Bezugsquelle verlassen. Da wir die Mittel aber zur Verfügung stellen müssen, haben wir schnell alternative Lösungen gesucht.» Rückmeldungen von Konsument*innen zur Qualität des Materials würde man aber ernst nehmen und bei der Beschaffung berücksichtigen.

5. Transparentes Drug Checking vor Ort

In den Gassenzimmern können Drogenabhängige die Substanzen, die sie konsumieren wollen, analysieren lassen. Dabei erfahren sie, welche Stoffe anteilsmässig in den Substanzen sind.

Doch das aktuelle Drug Checking in den Gassenzimmern ist gemäss Melanie für Konsument*innen intransparent; sie misstraut den Testergebnissen. Dass diese nicht stimmen, vermuten auch andere aus der «Alten Garde». Einer sagt: «Vor 20 Jahren war die Qualität auf der Strasse viel besser, es wurden weniger Streckmittel verwendet. Die hohen Prozentzahlen, die beim Drug Checking genannt werden, können nicht stimmen.»

Das weist Barbara Held zurück. Sie erklärt, das Drug Testing werde in Zusammenarbeit mit dem Labor des kantonalen Instituts für Rechtsmedizin vorgenommen. «Das Personal ist speziell geschult, die Ergebnisse zu Inhaltsstoffen und Streckmitteln werden nicht unkommentiert mitgeteilt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können je nach Inhalt auch vom Konsum abraten.»

Efringerstrasse Drogen
Der Eingang zum Haus an der Efringerstrasse. (Bild: David Rutschmann)

Doch: Der entscheidende Faktor würde beim Drug Checking gar nicht überprüft werden, sagt ein jahrelanger Heroin-User – relevant sei nicht der Reinheitsgrad der Droge (also wie viel Streckmittel beigemischt wurde), sondern ihre Stärke. «Als Süchtiger willst du nicht wissen, wie viel Dreck in deinem Kola ist – das ist eh schon klar. Du willst wissen, wie stark es ist.»

Barbara Held erklärt dazu, dass eine sogenannte Wirkungsgradfeststellung heikel wäre: «Die Wirkung wird auch durch Art und Menge der Streckmittel, Konsumart (intravenös, Inhalation oder Sniffen), Mischkonsum und Gewöhnung an die Substanzen beeinflusst.» Daher sei die Berücksichtigung individueller Voraussetzungen entscheidend – ein einfaches Testen der Stärke könnte die Konsument*innen in falscher Sicherheit wiegen.

Doch es sind nicht nur die K+A allein, die das Problem lösen können. Ein jahrelanger Drogenkonsument hat eine konkrete Idee: Es braucht ein Haus, in dem die Süchtigen leben und konsumieren können und in dem sie sozial und medizinisch betreut werden. Ein Ort also, an den sie nach Schliessung der Gassenzimmer hingehen und sicher konsumieren können. Wo es sanitäre Duschen hat und Waschmaschinen – und Sozialarbeiter*innen, welche die Konsument*innen bekochen und dazu auffordern, sich sauber zu halten und zu essen. Und Security, die verhindert, dass Dealer*innen in dieses Haus kommen. Betreutes Wohnen, aber keine Entzugsklinik.

*Die Klarnamen sind der Redaktion bekannt. Um die betroffenen Personen zu schützen, werden sie in diesem Artikel mit einem Pseudonym benannt.

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Das ist David (er/ihm):

Von Waldshut (Deutschland) den Rhein runter nach Basel treiben lassen. Used to be Journalismus-Student (ZHAW Winterthur) und Dauer-Praktikant (Lokalzeitungen am Hochrhein, taz in Berlin, Wissenschaftsmagazin higgs). Besonderes Augenmerk auf Klimapolitik, Wohnpolitik, Demopolitik und Politikpolitk. Way too many Anglizismen.

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