Was passiert in Israel?
Die Situation im Nahen Osten ist komplex. Warum hat sich die Lage jetzt so zugespitzt? Und wer ist eigentlich die Hamas? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen findest du in unserem Q&A mit Israel-Experte Erik Petry.
Prof. Dr. phil. Erik Petry (*1961) ist Co-Leiter des Zentrums für Jüdische Studien der Universität Basel. In seiner Laufbahn hat er sich unter anderem mit der jüdischen Geschichte in der Schweiz und Deutschland sowie mit der Geschichte des Nahen Ostens auseinandergesetzt.
Was ist die Ausgangslage, die zu diesem Ausbruch geführt hat?
Israel hat bis vor ein paar Tagen einen sehr gespaltenen und geschwächten Eindruck gemacht. Die Hamas hat diese Aktion, die sie jetzt durchgeführt hat, aber nicht erst seit ein paar Tagen geplant. Auch das Datum, 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg, wurde ganz bewusst gewählt. Dank der finanziellen Unterstützung u.a. des Irans konnte die Hamas ein solch grosses Waffenarsenal anhäufen. Wenn man das zusammendenkt, dann sieht man, dass das aus Sicht der Hamas eine geeignete Ausgangslage für einen solchen Angriff ist.
Der Krieg fand 1973 zwischen Israel, Ägypten und Syrien statt und war der fünfte arabisch-israelische Krieg im Rahmen des Nahostkonflikts. Am 06. Oktober, dem jüdischen Feiertag Jom Kippur, wurde Israel von syrischen und ägyptischen Truppen angegriffen. Die Verteidigungsposten Israels waren durch den Feiertag unterbesetzt und konnten dadurch von Ägypten und Syrien erobert werden. Nur zwei Tage später konnte Israel das Gebiet zurückerlangen, es gab jedoch grosse Verluste auf beiden Seiten.
Was ist die Hamas und wer steht dahinter?
Die Hamas ist eine palästinensische Organisation, die, grob gesagt, aus zwei Teilen besteht. Es gibt einen sozialen/politischen und einen militärischen Flügel. Die Hamas will den Staat Israel vernichten und einen Islamischen Staat errichten. Das wird von der Hamas klar gesagt und ist auch in den Aktionen der Hamas zu erkennen. Es ist also eine der Terrororganisationen, die es innerhalb der palästinensischen Gesellschaft gibt.
Warum brach der Krieg aus?
Es ist ein symbolisches Datum. Es wurde bewusst gewählt, um 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg zu zeigen, dass man Israel so angreifen und schwächen kann. Es braucht eine längere Planung dahinter, egal, wie die Situation ist.
Was ist das für ein Krieg? Gab es schon mal etwas Vergleichbares?
Der Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren war ein anderer Krieg. Dieser Krieg fand zwischen den Staaten Ägypten, Syrien und Israel statt. Jetzt haben wir einen Krieg zwischen einer Organisation, der Hamas, und Israel, aber dies ist nicht das erste Mal der Fall. Es gab schon einige militärische Auseinandersetzungen zwischen den Hamas und Israel, allerdings nicht in dieser Form, wie wir es jetzt erleben. Diese Form hat eine neue Ebene der Massivität, der Brutalität und des menschenverachtenden Zynismus erreicht. Es ist auch nicht ersichtlich, was das Ziel der Hamas genau sein soll, denn militärisch hat sie gegen Israel keine Chance. Ich sehe hier in erster Linie einen absoluten Vernichtungswillen und eine Demonstration dessen, dass man in der Lage ist, eliminatorische Gewalt auszuüben.
«Diese Form hat eine neue Ebene der Massivität, der Brutalität und des menschenverachtenden Zynismus erreicht.»Erik Petry
Könnte es zu einem Kräftemessen zwischen den USA und dem Iran kommen?
Was wir im Moment und auch häufig in der Weltgeschichte erleben, sind Formen von Stellvertreterkriegen. Eine direkte Konfrontation zwischen dem Iran und den USA sehe ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Es ist aber schon so, dass sich der Iran gegen den Westen positioniert. Wenn man Israel bekämpfen und vernichten will, dann greift man damit ein europäisches sowie ein US-amerikanisches Werteverständnis an. Ich würde nicht sagen, dass wir davon ausgehen können, dass es einen Konflikt zwischen den USA und dem Iran geben wird, aber ein Eingreifen der ebenfalls vom Iran finanzierten Hisbollah vom Norden aus dem Libanon her könnte passieren.
Was ist am Datum des Kriegsausbruchs besonders?
1967 gab es den sogenannten Sechstagekrieg. Israel hat einen grossen, unerwarteten militärischen Sieg errungen. 1973 wurde Israel von Ägypten und Syrien überfallen, und es war lange nicht klar, wie der Krieg ausgehen wird. Israel gewann ihn zwar, aber mit einem hohen Verlust. Das ist ein Motiv in der arabischen Welt: Israel ist auch nicht unbesiegbar, obwohl sie den Krieg gewonnen haben. Der Krieg wird im arabischen und im israelischen Bewusstsein unterschiedlich wahrgenommen. Nach dem Jom-Kippur-Krieg änderte sich in Israel die politische Situation. Die eigentlich seit 1948 in verschiedenen Koalitionen regierende Sozialdemokratie wurde 1977 schliesslich abwählt. Die Folgen des Krieges innerhalb Israels sind sehr stark. Die damalige Ministerpräsidentin Golda Meir trat zurück, obwohl sie 1973 wiedergewählt wurde. Dieser Krieg ist eine Zäsur in der israelischen Politik und ein wichtiges Datum in der arabischen Welt. An einem solchen Tag anzugreifen, und dann noch an einem Samstag, dem Schabbat, der einen hohen Stellenwert in der jüdischen Community hat, hat eine hohe symbolische Bedeutung.
«Die Folgen des Krieges innerhalb Israels sind sehr stark.»Erik Petry
Ist die israelische Regierung zurzeit geschwächt? Weshalb?
Israel erscheint seit ungefähr einem dreiviertel Jahr geschwächt. Es ist eine gespaltene Gesellschaft. Die Ideen der jetzigen Regierung, vor allem diejenigen der Justizreform, stossen bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung auf grossen Widerstand. Seit Januar gibt es eigentlich jedes Wochenende Demonstrationen gegen diese Justizreform und gegen die sehr rechtsstehende Regierung. Dazu gibt es heftige Auseinandersetzungen über die Politik im Westjordanland. Es ist nicht so, dass Israel stets als homogenes politisches Land dasteht. Die politischen Auseinandersetzungen in Israel sind hart und heftig. Eine solche Spaltung aber, wie man sie im Moment zwischen den Befürworter*innen der Justizreform und den Gegner*innen erlebt, ist allerdings massiv. Das hat auch Folgen für den Sicherheitsapparat. Die Leute wurden darauf hingewiesen, dass man jetzt sicherheitstechnisch in eine schwierige Situation kommen könne. Nun ist das offensichtlich eingetreten. Den umfassenden Blick auf die allgemeine Sicherheitssituation hatte man offensichtlich nicht. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Regierung sich zu sehr auf die Demonstrationen fokussierte und weniger auf die Sicherheit. Diese Probleme müssen aber noch aufgearbeitet werden, wir sind gerade mittendrin. Viele Dinge, die die Historiker*innen sagen, sind aus dem Kontext heraus argumentiert und können noch nicht zu 100 Prozent bestätigt werden. Wir müssen sehen, was die Forschung und die sicherlich einzusetzende Untersuchungskommission zeigen wird, was da genau schiefgelaufen ist.
«Die politischen Auseinandersetzungen in Israel sind hart und heftig.»Erik Petry
Warum hat der israelische Geheimdienst den Angriff nicht vorhergesehen?
Das ist eine grosse Frage in der israelischen Presse. Aber momentan kann man das noch überhaupt nicht beantworten. Es wäre sehr spekulativ, wenn man Gründe nennen würde.
Was bedeutet dieser Krieg für die Jüd*innen in Israel?
Die Bedrohungssituation auch und gerade für Zivilist*innen in Israel gibt es schon sehr lange. Als ich selbst in den 1990er Jahren lange in Israel gelebt habe, kam von Saddam Hussein die Drohung, Chemiewaffen auf Israel abzufeuern. Dann sind wir wochenlang mit Gasmaske in einer Umhängetasche herumgelaufen, hatten die Fenster in den Wohnungen abgedichtet und Schutzzimmer eingerichtet. Die Bedrohung ist also nichts Neues. Mit den Angriffen der letzten Tage hat sich die Situation aber nochmals deutlich gesteigert. Jetzt ist es ein Angriff auf die gesamte Gesellschaft, auf das ganze Land. Für die israelische Bevölkerung hat der Konflikt eine Dimension erreicht, mit der man nicht gerechnet hat.
Ausserdem herrscht in Israel eine strenge Militärpflicht für Männer und Frauen. Israel hat jetzt seine Reservist*innen rekrutiert. Für viele Menschen heisst der Angriff also auch, dass sie jetzt militärische Dienste leisten müssen.
«Dann sind wir wochenlang mit Gasmaske in einer Umhängetasche herumgelaufen, hatten die Fenster in den Wohnungen abgedichtet und Schutzzimmer eingerichtet.»Erik Petry
Was bedeutet dieser Krieg für die Palästinenser*innen in Israel?
Zwanzig Prozent der israelischen Staatsbürger*innen sind nicht jüdisch, ein Grossteil davon arabisch-muslimisch. Sie befinden sich in einer schwierigen Situation, eben weil sie israelische Staatsbürger*innen sind und gleichzeitig aber auch nach Gaza und ins Westjordanland schauen. Anders als Israel zieht die Hamas aber keine Leute ein. Ihre Kampftruppen werden auf freiwilliger Basis rekrutiert.
Was kann die Schweiz nun tun?
Die Schweiz kann in erster Linie ihre Politik im Nahen Osten überdenken. Die Idee der Diplomatie ist in der Schweiz sehr verankert. Wenn die Schweiz diplomatisch etwas erreichen kann, dann soll sie das machen. Von diesen Verhandlungen würde die Öffentlichkeit aber nichts mitbekommen, das geschieht im Verborgenen.
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