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Die Schweizer Forschung ist ohne EU-Förderung im Seich

Forschungsgelder aus der EU bedeutet nicht nur viel Geld, sondern auch Prestige. Ohne neues Rahmenabkommen geht die Schweiz jedoch leer aus. «Das kann dem Land als Forschungsstandort schaden», sagt die Basler Neurobiologin Anissa Kempf, die sich gerade den begehrten Starting Grant der EU gesichert hat.

01/26/22, 04:00 AM

Aktualisiert 02/08/22, 12:34 PM

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Anissa Kempf Neurobiologin Biozentrum EU Horizon

Hat viele Job-Angebote aus der EU, möchte aber vorerst in Basel bleiben: Anissa Kempf. (Foto: zVg)

In Kürze:

Was bedeutet es, wenn EU-Gelder wegen des gescheiterten Rahmenabkommens für Forscher*innen in der Schweiz nicht mehr zur Verfügung stehen? Eine junge Forscherin aus Basel hat gerade einen prestigeträchtigen EU Starting Grant bekommen. Ihr Fall zeigt, was die Schweizer Forschung ohne Rahmenabkommen verliert, und warum es um mehr als nur Geld geht.

Anissa Kempf hat Glück. Sie ist eventuell eine der letzten Forscher*innen in der Schweiz, die vom EU-Förderprogramm Horizon profitieren. Als sie sich für einen EU Starting Grant bewarb, liefen die Verhandlungen zwischen Schweiz und Europäischer Union über das Rahmenabkommen noch.  

Die Basler Neurobiologin forscht dazu, wie das Gehirn den Schlaf steuert. Kempfs Forschung soll dazu beitragen, neue Ansätze für die Diagnose und Behandlung von Schlafstörungen zu finden. Da der Schlaf immer noch zu den grossen Rätseln der Biologie gehört, braucht es mehr Wissen. Deshalb bewarb sie sich um den Grant, er ermöglicht, fünf Jahre lang zu forschen.

Ohne Sitz in der EU keine Förderung

Anissa Kempf schaffte es in die nächste Runde und bekam eine Einladung zum Interview. Doch mitten im Bewerbungsprozess wurde alles anders: Die Schweiz brach die Gespräche mit der EU ab und liess das Rahmenabkommen scheitern. Resultat: Die Schweiz darf nicht mehr am Horizon-Programm teilnehmen. Unterstützt werden nur noch Forscher*innen, die in der EU arbeiten.

Für Kempf eine schwierige Situation: Sie stand da mit ihrer Einladung zum Bewerbungsgespräch, doch: «Eine Zeit lang war nicht klar, ob ich überhaupt am Interview teilnehmen kann.» Der ERC Starting Grand, für den sich Kempf beworben hat, sieht bis zu 1,5 Millionen Euro Förderung vor.

EU-was?

«Horizon Europe» ist das neunte Forschungsrahmenprogramm der EU und dauert von 2021 bis 2027. Es ist das weltweit grösste Forschungs- und Innovationsförderprogramm und stellt das bisher ambitionierteste Programm in der Geschichte der Europäischen Union dar. Von 2021 bis 2027 werden 95,5 Milliarden Euro ausgeschüttet. In der Vergangenheit war die Schweiz sehr erfolgreich mit eingereichten Projektvorschlägen: Mit 17,7 Prozent angenommenen Projekten (Stand Januar 2021) lag die Schweiz im Ländervergleich an fünfter Stelle.

Der European Research Council (ERC) vergibt im Rahmen von Horizon verschiedene Förderprogramme, sogenannte Grants. Dazu gehört auch der ERC Starting Grant. Er richtet sich an junge Forscher*innen, die zwei bis sieben Jahre nach ihrem Doktor eine Förderung von bis zu 1,5 Mio. Euro über fünf Jahre bekommen können.

Zwischen 2014 und 2020 sind insgesamt rund 2585 Mio. CHF an EU-Fördermitteln in die Schweiz geflossen (Stand September 2020). 

Inzwischen weiss Kempf, dass sie trotz Ausschluss der Schweiz mit der Finanzierung ihrer Forschung rechnen darf: Anissa Kempf konnte die EU-Jury mit ihrer Forschungsidee zwar überzeugen, bezahlen wird jetzt allerdings die Schweiz – sie hat versprochen, als Geldgeberin einzuspringen und die Förderung für die auserwählten Schweizer Kandidat*innen zu übernehmen. 

Für Kempf ist das ein Vorteil: Sie bekommt die Mittel, ohne dafür die Schweiz verlassen zu müssen. Das ist eine Übergangsregel: Die EU hat zugestimmt, dass die Schweiz dieses Jahr weiterhin teilnehmen darf. Nächstes Jahr werden Forscher*innen mit Arbeitsplatz in der Schweiz nicht mehr gefördert. 

Kempf ist froh über die Lösung, nicht nur wegen des Geldes, sondern auch wegen ihrer Karriere: «Ich darf in meinem Lebenslauf erwähnen, dass ich die EU-Förderung bekommen habe, weil wir Kandidat*innen alle gleich evaluiert wurden.» 

«Wenn die Schweiz ausgeschlossen bleibt, kann das dem Land als Forschungsstandort schaden.»

Anissa Kempf, Neurobiologin am Biozentrum und EU-Grant-Empfängerin

Die Erwähnung im Lebenslauf ist ein wichtiger Punkt, bei dem Grant geht es um viel Prestige. Die EU-Förderung ist etwas, mit dem sich Forscher*innen schmücken können und die ihnen im kompetitiven Umfeld der Universitäten einen Vorteil verschafft – mit einem Grant winken bessere Jobangebote. 

Der Grund: «Der Grant steht für gute Ideen, die mit einem Riesenaufwand und gutem Know-how verbunden sind», sagt die 37-Jährige. Und nur eine auserwählte Gruppe von Leuten bekommt ihn. Die Statistik ist eindeutig: Zwischen 80 und 90 Prozent der Gesuche werden abgelehnt. 

Gerade für junge Forscher*innen, die wie sie eine Karriere als Gruppenleiter*in starten, sei der Grant wichtig, erläutert Kempf. Sie ist daher überzeugt: «Wenn die Schweiz ausgeschlossen bleibt, kann das dem Land als Forschungsstandort schaden.» Kempf hat am eigenen Leib erfahren, dass der Grant viele Türen öffnet.

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Andererseits geht es aber auch ums Geld. Die Nano-Forschung der Uni Basel etwa befürchtet, ein Drittel seiner Mittel zu verlieren. «Man bekommt von der EU sehr viel Geld für einen langen Zeitraum. Das bedeutet, man kann Risiken eingehen, um innovative Forschung zu betreiben», sagt Kempf. Bei der nationalen Förderungskommission SNF sei es viel schwieriger an langfristige Hilfen zu kommen. «Das ist ein Riesenvorteil bei der EU.»  

Kommt hinzu: Der Grant bietet auch einen Standortvorteil im Kampf um hervorragende Wissenschaftler*innen. Gewinnt ein Forschungsprojekt die Auszeichnung, zieht das weitere qualifizierte Leute an. «Durch den Grant bekommt man mehr Visibilität», sagt Kempf. Davon profitiere sie als Forschungsleiterin, weil sie ein Top-Team zusammenstellen kann. 

Abwerbungen in die EU nehmen zu

Anissa Kempfs millionenschwere Förderung lockt aber nicht nur Bewerber*innen, sondern auch potenzielle Arbeitgeber*innen an. «Ich habe viele Anfragen aus der EU bekommen, ob ich woanders hingehen würde.» Für die Neurobiologin ist das ein Zeichen, dass die Abwerbungen von der Schweiz in die EU zunehmen, weil alle wissen, dass es für den Schweizer Standort jetzt härter wird, konkurrenzfähig zu bleiben. Und das in einem Umfeld, in dem sich Forscher*innen heute an der Universität schon von befristetem zu befristetem Vertrag hangeln und gleichzeitig in der Wirtschaft ein Fachkräftemangel herrscht.

Anissa Kempf könnte also jederzeit ihr Köfferchen mit den rund 1,5 Millionen Franken packen und einen neuen Job in der EU aushandeln. 

«Ich hatte schon vor der Zusage angefangen, hier zu arbeiten, also war eigentlich klar, dass ich hier bleiben würde.»

Kein Wunder, dass sich Player aus Forschung und Industrie Sorgen machen. Die Basler Regierung hat das Problem ebenfalls erkannt. ETH, Unis und forschende Industrie schildern in einer Resolution an den Bundesrat die Nachteile, die der Rauswurf aus dem Horizon-Programm mit sich bringt. Die Autor*innen warnen, es sei «die Zukunft der internationalen Vernetzung des Forschungs- und Innovationsplatzes Schweiz in Gefahr». Auch sie berichten von einem verschärften Konkurrenzkampf um Talente zwischen der EU und der Schweiz.

Der Bundesrat hat zumindest zum Ziel erklärt, dass die Schweiz wieder vollständig an «Horizon Europe» assoziiert wird. Derzeit gibt es allerdings keine Verhandlungen zu einem neuen Rahmenabkommen.

Aussicht auf eine feste Stelle

Erst einmal geht Anissa Kempf nirgendwo hin. «Ich habe eine Tenure Track Professur am Biozentrum, das heisst, ich habe nach fünf Jahren eine Aussicht auf eine feste Stelle. Ich hatte schon vor der Zusage angefangen, hier zu arbeiten, also war eigentlich klar, dass ich hier bleiben würde.» Professuren mit der Möglichkeit, am gleichen Ort zu bleiben, seien in der Schweiz und in der Wissenschaft generell eine Seltenheit. 

Dass sie bleibt, hat aber auch sehr viel mit ihrer Verbundenheit mit Basel zu tun, Kempf ist unter anderem hier aufgewachsen. Daher steht ein Abgang nicht zur Debatte, sie sagt aber: «Ich kann mir vorstellen, dass es für andere nicht so eindeutig wäre.» 

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