Keine Spur von EU-phorie

Während das neue Freihandelsabkommen mit Indien gefeiert wird, will für die gerade begonnenen EU-Verhandlungen keine Stimmung in der Schweiz aufkommen. Es braucht innenpolitisch ein starkes Signal, um das Abkommen-Paket nicht aufs Spiel zu setzen, kommentiert Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

EU-Verhandlungen Kommentar Ina
(Bild: Collage: Bajour)

Solch euphorische Voten hört man selten: «Mit dem Abkommen setzt die Schweiz auf eine dynamische, zukunftsgerichtete Wirtschaft», hiess es bei der SVP und «Ein Wettbewerbsvorteil für die Schweiz» bei der NZZ. Von Vorteilen für die Schweizer Uhren- und Maschinenbauindustrie ist zu lesen und von viel wirtschaftlichem Potenzial. 

Nein, es ging dabei nicht um die Verhandlungen mit der EU, sondern um das Freihandelsabkommen mit Indien, das die EFTA-Staaten (Schweiz, Liechtenstein, Island und Norwegen) vor knapp zwei Wochen unterzeichnet haben. Der wirtschaftliche Nutzen steht klar im Vordergrund, tatsächliche Probleme wie eine aufwendige Geschäftsvisa-Beschaffung und Korruption werden nur vereinzelt kritisiert. Das Abkommen ist trotz aller Vorteile vor allem auch ein Kompromiss.

Was auch immer bei den neu aufgenommenen Verhandlungen mit der EU herauskommt, es wird ebenfalls ein Kompromiss sein. Natürlich lässt sich das indische Freihandelsabkommen nicht gleichsetzen mit dem Paket aus institutionellen Verbindungen, wie es mit der EU angestrebt wird. Letzteres ist viel weitgehender. Freude über freien Warenverkehr hört man im EU-Kontext jedoch eher selten. Der Haupttreiber des Wirtschaftsabkommens, der wertvolle Zugang zum Binnenmarkt wird kaum erwähnt, sondern in der aktuellen Debatte ums Verhandlungsmandat wie selbstverständlich und fast nebensächlich behandelt.

Dass diese Woche die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU begonnen haben, freut allerdings kaum jemanden. Wo bleibt hier die Euphorie?

Die EU ist nach wie vor der grösste Handelspartner der Schweiz: 2022 machte der Handel mit der EU mit 298,77 Milliarden Franken bei weitem den Grossteil bzw. 58,3 Prozent des Gesamthandelsvolumens aus. Es ist ganz klar: Die Schweiz profitiert von der  Wirtschaftskraft der EU. Negativ formuliert: Die Schweiz ist zu einem hohen Masse auch abhängig vom Handel mit der EU. Das ergibt sich organisch aus der Nähe zu Deutschland, Frankreich oder Italien. Die Schweiz profitiert von Grenzgänger*innen, anderen EU-Fachkräften und Einkaufs- und Kulturtourist*innen. Nicht nur geografisch, auch kulturell und was die gemeinsamen Werte betrifft, dürfte die EU der Schweiz näher sein als Indien. Solche Faktoren spielen wirtschaftlich eine grosse Rolle. 

Dass diese Woche die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU begonnen haben, freut allerdings kaum jemanden. Öffentlich sind zumindest keine Freudenjuchzer zu vernehmen. Auch Bundesrat Ignazio Cassis äussert sich betont nüchtern-abgeklärt zum zweiten Anlauf der Verhandlungen. Wo bleibt hier die Euphorie?

Möchte der Bundesrat das Abkommen-Paket nicht aufs Spiel setzen, muss er sich auf die Gewerkschaften zubewegen.

Dass die Gewerkschaften enttäuscht sind, lässt sich einigermassen nachvollziehen. Der Bundesrat hatte versprochen, parallel zu den aussenpolitischen Sondierungen auch innenpolitisch voran- und entgegenkommen zu wollen. Bei den Verhandlungen, um etwa die Gesamtarbeitsverträge auszuweiten, ist man jedoch ergebnislos steckengeblieben. Deshalb geben die Gewerkschaften ordentlich Druck auf den Kessel bzw. den Bundesrat – und pokern hoch. Ein erneuter Abbruch der EU-Verhandlungen scheint zumindest nicht komplett abwegig.

Möchte der Bundesrat das Abkommen-Paket nicht aufs Spiel setzen, muss er sich auf die Gewerkschaften zubewegen. Ohne Zustimmung der Genoss*innen bei gleichzeitigem Vollgas-Kontra-Kurs der SVP wird es schwierig, die Verhandlungen mit Parlament (und wahrscheinlich auch vor dem Volk) durchzubringen. 

Damit das Paket aus bilateralen Abkommen wirklich erfolgreich über die europäisch-schweizerische Bühne geht, braucht es ein positives Signal in der Schweiz.

«Alle gehen davon aus, dass das jetzt der entscheidende Anlauf ist und wenn das nicht klappt, dann haben wir mehrere Jahre Eiszeit», sagt die Basler Europarecht-Professorin Christa Tobler im Bajour-Interview. Sie hat vermutlich recht, da die EU sich bei einem erneuten Gesprächsabbruch ordentlich vor den Kopf gestossen fühlen wird. Und ehrlicherweise braucht die Schweiz die EU mehr als andersherum.

Damit das Paket aus bilateralen Abkommen wirklich erfolgreich über die europäisch-schweizerische Bühne geht, braucht es ein positives Signal in der Schweiz. So stark, dass das «EU-ist-Kinderfresser»-Narrativ der SVP aus den Köpfen verschwindet. Wenn die Schweiz jetzt nicht das Momentum nutzt, wie es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen formuliert, gewinnen die lauten Gegner*innen die Überhand und ein bilaterales Abkommen nach dem anderen wird auslaufen.

Immerhin hat die Schweiz dann noch das brandneue Freihandelsabkommen mit Indien – inwieweit dieses den darbenden nachbarlichen Waren- und Wissensaustausch zum Beispiel mit Deutschland, Frankreich und Italien ausgleichen kann, bleibt mehr als fraglich. 

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