Gegen den Strom

Er ist zuerst Unternehmer, dann Grüner. Jérôme Thiriet gefällt sich in der Rolle eines Freigeists mit eigentümlichem Charme. Aber: Kann er auch Regierung?

Jérôme Thiriet
Lächeln muss er in letzter Zeit oft: Jérôme Thiriet.

Wenn die roten Männchen auf den Cargovelos die Ameisen der Stadt sind, dann ist der «Wolf» ihr Ameisenbau. In alten SBB-Güterhallen findet sich dort die Kurierzentrale, einer der ältesten Velokurierbetriebe der Schweiz. Ganz start-upig ist man hier, zwischen Gleisen und Graffiti, eingenistet. Draussen stehen Bierdosen und eine angebrochene Amaretto-Flasche auf einem Palettentisch. Drinnen: Töggelikasten im Aufenthaltsraum. Gekocht wird für alle in der Gemeinschaftsküche: «Pasta ist unser Benzin», sagt Jérôme Thiriet beim Rundgang.

Dass der 41-Jährige hier der Chef ist, sieht man ihm nicht zwingend an. Klar, er gehört ja auch immer noch zur Velokurierflotte, düst ab und an als selbst als rotes Männchen durch die Stadt. Vielleicht könnte man den Boss an der Smartwatch, auf der er Business macht, erkennen. Oder daran, dass das LED-Signal auf seinem Handy aufblitzt, wenn er eine Nachricht erhält  – so eine Funktion kann man ja nur aushalten, wenn man Wichtiges zu organisieren hat. Doch mit dem schwarzen Hoodie bleibt er als Chef unauffällig. Hinten auf dem Hoodie steht das Kurierzentrale-Motto: «Never sleep, always deliver.»

Im Velokurierdienst muss es schnell gehen. «Jérôme», das ist zu lang, um es per Funk zu sagen. Also wurde daraus «Strom». Einer, der Energie hat. Einer, der auf Zack ist. Als Strom kennt man Thiriet seit vielen Jahren in der internationalen Velokurier-Szene. Ja, die gibt es. Und da ist Thiriet eine grosse Nummer: Er fuhr ganz vorne mit, wenn es irgendwo Wettbewerbe gab. Sein Netzwerk der strammen Wädli überspannt den Globus.

Jerome Thiriet Rennvelo
Tour de Force? Strom in seinem Element.

«Das sind alles ein bisschen nonkonforme Leute, Outlaws, Idealisten, Freigeister», sagt Thiriet und meint damit auch sich. Wer als 16-jähriger Kurierfahrer das Gymnasium abbricht, muss nicht nur sehr überzeugt von sich selbst sein, sondern auch davon, dass Velokurier ein Job mit Zukunft ist. Den Bürostuhl hielt Thiriet nach der KV-Lehre mit Mitte 20 nicht lang aus, bevor er wieder auf den Sattel wechselte. Und bald zum Geschäftsführer wurde. Sein ehemaliger Chef, Joost Oerlemans, sagt: «Er war überzeugt, dass er die Kurierzentrale besser leiten kann als ich. Das ist eine mutige und gute Einstellung, sie hat ihn weit gebracht.» 

Eine «Tellerwäscher-Karriere» – dieses Narrativ will Thiriet in den Basler Köpfen verankern. Denn er will bei den Ersatzwahlen am 3. März für die Grünen einen Sitz in der Regierung erobern. Er wäre das einzige Regierungsmitglied ohne Matur, betont er bei jeder Gelegenheit im Wahlkampf. Und macht die Stärkung der Berufslehre zu seinem politischen Steckenpferd. Nicht nur, weil seine politische Kernkompetenz in Velothemen kaum wahlkampftauglich ist, sondern auch, weil er – landet er nicht im Präsidium, sondern als Regierungsrat im Erziehungsdepartement – in Bildungsthemen Pflöcke einschlagen muss. 

Seine Konkurrenten sind immerhin unter anderem der Erziehungsdirektor und ein ausgewiesener nationaler Bildungspolitiker. Thiriet dagegen politisiert erst seit relativ kurzer Zeit, hat weder Erfahrung in der Exekutive oder der nationalen Politik – wie Cramer oder Atici – oder als Parteipräsident wie Urgese. Die fehlende politische Erfahrung ist seine Achillesferse – mögen die Waden noch so stark sein.

«Förmlichkeit ist mir nicht fremd. Und wenn ich auch privat mal einen über den Durst trinke, kann ich trotzdem Verantwortung übernehmen.»

von Jérôme Thiriet

Was Thiriet entgegenhalten kann, ist: Regierungsratswahlen sind Persönlichkeitswahlen. Er ist nicht erst seit seiner Politkarriere ein bekanntes Gesicht in Pfadi, Stadion, Kneipen im Kleinbasel und auf Velorouten. Und sein etwas eigentümlicher Charme ist vielen Leuten sympathisch. Die Gesellig- bis Bierseligkeit erst recht. Und dass er auch öffentlich nicht geschliffen redet, sondern «geil» und «Bock haben» zu seinem Aktivwortschatz zählen, macht das Buddy-Image komplett. 

Und jetzt strahlt er aufgeputzt von den Drämmli-Bildschirmen im Jackett. Kauft man ihm das ab? «Förmlichkeit ist mir nicht fremd. Und wenn ich auch privat mal einen über den Durst trinke, kann ich trotzdem Verantwortung übernehmen», sagt er selbst. Das bestätigt auch sein ehemaliger Chef Joost Oerlemans: «Er agiert sehr klar und seriös am Verhandlungstisch.»

Der LinkedIn-Thiriet existiert eben nicht nur auf LinkedIn. Seinen Leistungsausweis kann ihm niemand absprechen. Er führt ein Unternehmen mit 130 Mitarbeitenden. «Seine Stärke ist, dass er nicht alles selber machen muss, und weiss, an wen er was delegieren kann», sagt Oerlemans. Und Thiriet sagt: «Schon in der Pfadi habe ich gelernt, dass man im Team die besten Resultate bekommt, wenn man jeden erstmal schaffen lässt.»

LinkedIn Jerome Thiriet
Er weiss, wie er sich in Szene setzen muss.

Ein Spirit, den er auch in die Regierung tragen will. Wie viel flexibler, wie viel dynamischer, wie viel digitaler kann man den Verwaltungsapparat machen – Thiriet will es ausloten. Überschätzt er mit seinem politisch jungen Leichtsinn, wie stark sein Charakter als agiler Unternehmer in der Verwaltung fruchtet? Kurze Wege sind eher die Ausnahme. Trotzdem: Da und dort Provisorien, Pilotprojekte, solche Sachen wie die kürzlich beschlossenen Superblocks. So könne man die Stadt lebenswerter machen.

Als Beispiel nennt er die Kleinbasler Rheinpromenade: Vor 30 Jahren habe niemand im Sommer am Rhein gechillt, der Fluss war dreckig und hier traf sich die offene Drogenszene. Nix mit Fixerstübli, nix mit Hipster*innen und Gentrifizierung: «Als ich in den 80ern am Erasmusplatz aufgewachsen bin, galt das als Schandfleck. Mit wenigen Massnahmen haben wir die Aufenthaltsqualität so gesteigert, dass es heute der schönste Ort in Basel ist.» Dass Ähnliches auch mit der Feldbergstrasse passieren könnte, dafür will er sich einsetzen.

Man merkt: Den Kleinbasler Lokalpatrioten lässt Thiriet, der auch am Parlamentsrednerpult nur Baseldytsch redet, im Wahlkampf gekonnt raushängen – und drosselt sich nur, als ihm die Eigenbezeichnung «Kleinbasler durch und durch» rassistisch ausgelegt wird, weil sie als Abgrenzung zu SP-Kandidat Mustafa Atici verstanden wurde, der in der Türkei zur Welt kam. «Solche Kritik nagt schon an ihm. Er ist eigentlich harmoniebedürftig und will nicht gern der bad boy sein», sagt Joost Oerlemans. 

Jérôme Thiriet Kurierzentrale Never Sleep Always Deliver
Im Hoodie ins PD?

Dabei: Streiten hat Thiriet als jüngerer Bruder eigentlich gelernt. Maurice ist zwei Jahre älter, der junge Jérôme eiferte ihm nach. Er folgte ihm aufs Rennvelo und in die Pfadi – und weil er seinem Bruder anfangs hinterherdackelt, wird «Idefix» sein Pfadiname, wie das kleine Hündchen von Obelix. «Natürlich haben wir als Brüder auch mal gefightet und um Aufmerksamkeit gebuhlt», sagt Jérôme Thiriet.

Heute hat er eine sehr enge Beziehung zu seinem Bruder, der wie der Vater, Radiolegende Roger Thiriet, Journalist wurde – unter anderem war Maurice Thiriet lange Chefredaktor des Onlinemagazins Watson. Doch Jérôme folgte eher dem politischen Engagement der Mutter Irène, die für die Basta politisierte.

Vom Grünen Listerfüller zum Alphatier im Parlament

Eine Pfadi-Kollegin – die langjährige Co-Präsidentin und Grossrätin der Grünen, Mirjam Ballmer, – fragte Thiriet 2012 an, ob er nicht auch für die Grünen auf der Grossratsliste kandidieren wolle. Mit seiner linksliberalen Haltung sieht er sich dort in der richtigen Partei. Seine Bekanntheit verschaffte ihm jeweils gute Resultate, doch erst zwei Nichtwahlen später kam Thiriet 2019 als Nachrücker in den Grossen Rat.

Im Ratsbetrieb fand er sich schnell zurecht – weil er auf alle zugehen kann. «Man hat es mega lustig mit ihm», sagt seine Parteikollegin Anouk Feurer. Sein markantes Lachen (Hörprobe im Regionaljournal, Minute 3:08), es fällt auf. Er ist Kapitän im FC Grossrat, schäkert gern im Vorzimmer des Parlaments – und kann dort auch verschiedene Leute aus anderen Parteien von Anliegen überzeugen. Als engagiert und initiativ bezeichnen ihn Ratskolleg*innen. 

Und: Er habe den Mut, auch «ohne mit der Wimper zu zucken» von der Meinung der Fraktion abzuweichen, sagt zum Beispiel der SVP-Grossrat Lorenz Amiet: «Er denkt sehr grün, was man an seinem Abstimmungsverhalten sieht. Aber er versteht als Unternehmer auch die Sorgen der KMU und woher das Geld kommt.» Dass die Grünen auf eine so «zentristische» Figur wie Thiriet setzen, findet Amiet logisch: «Es zeigt, dass es keine Alibi-Kandidatur ist, sondern sie es ernst meinen.»

Jerome Thiriet Pressekonferenz Grüne
Bei der Pressekonferenz, um seine Kandidatur bekannt zu geben.

Fraglos: Seine Kandidatur, ausgerechnet für den freiwerdenden Sitz der Bündnispartner SP, polarisiert. Wie hoch die Wogen gehen, damit hat auch Thiriet nicht gerechnet, gesteht er ein. Im linken Lager wird das wohl noch länger diskutiert werden – auch wenn jetzt erstmal alle zu sehr mit Wahlkampf beschäftigt sind, um das auszudiskutieren. Und auch in der eigenen Partei hatten einige Bauchweh mit der Strategie, nicht bis im Herbst zu warten mit der Kandidatur. Nachdem der Vorstand kurz vor Weihnachten 2023 vorgeprescht war mit den Thiriet-Plänen, wäre der Schaden einer Nicht-Nomination durch die eigene Partei aber zu gross gewesen. Die Reihen schlossen sich an der Mitgliederversammlung.

Für Thiriet zumindest ist der Zeitpunkt der richtige. Der Sprung in die Regierung sei nun mal bei einem freien Sitz grösser als bei den Gesamterneuerungswahlen im Herbst, wenn wieder alle bisherigen Regierungsrät*innen antreten. Und im Geschäft kann er sich darauf verlassen, dass seine Nachfolge gut geregelt ist. Jetzt muss er einfach im Wahlkampf überzeugen, ist er überzeugt. Auf dem Velo sitzt er zumindest immer fest im Sattel.

Bajour Herz
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