«Es wird einen nie dagewesenen Gewaltschutz 24/7 geben»
Conradin Cramer redet im Bajour-Interview über umfangreichen Gewaltschutz am ESC und darüber, wie schwer es ist, Kultur und Politik zu trennen, über mögliche Demo-Verbote am Finaltag und darüber, warum Israels Teilnahme nicht infrage gestellt gehört.
Conradin Cramer, Sie möchten, dass am Eurovision Song Contest (ESC) Politik und Kultur getrennt werden. … Lassen Sie uns deshalb über Kultur und Politik reden.
(Seufzt.)
Haben Sie den Code schon geknackt, wie Sie den ESC zwischen den verschiedenen Anspruchsgruppen ausbalancieren?
Der ESC ist ein Fest der Musik. Gleichzeitig hat das Motto «United by Music» natürlich eine politische Komponente. Und wie ich finde, eine schöne. Dahinter steht die Idee, dass man in Europa zusammenkommt und Nationen sich in einem friedlichen, freundlichen Wettbewerb miteinander messen, durchaus auch mal mit einem Augenzwinkern. Für mich steht diese politische Dimension der Versöhnung und des Zusammenseins im Vordergrund.
Freuen Sie sich noch auf den ESC oder wurde die anfängliche Euphorie inzwischen abgelöst von den Sorgen, die so ein Mega-Event mit sich bringt?
Ich freue mich und habe das Gefühl, dass alle, die an der Organisation beteiligt sind, sich ebenfalls freuen. Gleichzeitig ist aber auch ein grosses Verantwortungsbewusstsein da, denn ein für Schweizer Verhältnisse riesiger Anlass bringt auch Anforderungen mit sich. Ich glaube, wir können das in der Schweiz und in Basel gut stemmen. Zudem glaube ich, dass die vielen Begegnungen in der Stadt eine Chance sein werden, und die Basler*innen sich darauf freuen und stolz auf ihre Stadt sind.
«Das gab es in der Form noch nie in Basel oder der Schweiz.»Conradin Cramer über das Gewaltschutz-Projekt
Was kann Basel überhaupt zum Gelingen beitragen? Sie sind ja ein Stück weit der ESC-Organisation und der SRG ausgeliefert, wie die Veranstaltung laufen wird.
Die Stadt kann einen riesigen Teil zum Gelingen beitragen, indem sie eine Atmosphäre schafft, in der man sich wohlfühlt. Wir wollen offen und gastfreundlich wirken und ein Sicherheitsgefühl vermitteln. In Basel sind die Wege kurz, es gibt Möglichkeiten, den ÖV oder das Velo zu nutzen. Es ist entscheidend, wie wir den Anlass gestalten. Andere Dinge sind für uns als Host-City gegeben, so ist beispielsweise gesetzt, welche Nationen oder Künstler*innen teilnehmen. Das liegt nicht in unserer Hand, denn das Programm definieren die European Broadcasting Union (EBU) und die nationalen Rundfunkanstalten.
Was liegt denn in Ihrer Hand?
Damit sich alle beim ESC sicher fühlen, werden wir ein in der Schweiz nie dagewesenes Projekt zusammen mit der Fachstelle Gewaltschutz und Opferhilfe lancieren.
Wie sieht das Projekt aus?
Es wird eine 24/7-Hotline und Anlaufstellen vor Ort geben, an die sich alle Menschen wenden können, wenn sie am ESC Gewalt oder Diskriminierung erfahren. K.-o.-Tropfen waren kürzlich ein Thema in Basel, es kann Pöbeleien oder andere Gründe geben, warum sich jemand unsicher fühlt. Hier möchten wir niederschwellig im Sinne des Opferschutzes Hilfe anbieten. Die Hotline wird von der Opferhilfe in Zusammenarbeit mit der Dargebotenen Hand betrieben, die mit der Polizei, der Sanität und privaten Sicherheitsdiensten und weiteren Stakeholdern in Kontakt stehen.
Was ist neu an dem Konzept?
Die Hotline unterstützt Menschen, die Hilfe benötigen und nicht gleich die Polizei anrufen möchten. Die Mitarbeitenden sprechen verschiedene Sprachen und sind rund um die Uhr erreichbar. Ausserdem werden mobile Awareness-Teams und Anlaufstellen am ESC anwesend und Tag und Nacht vor Ort ansprechbar sein. Das gab es in der Form noch nie in Basel oder der Schweiz.
«Für mich ist ganz klar, dass Israel dabei ist.»Conradin Cramer über Stimmen, die einen Ausschluss Israels fordern
Der ESC in Malmö wurde überschattet von Terrorgefahr und Protesten gegen Israels Teilnahme. Die Sängerin, die für Israel beim Basler ESC antreten wird, ist Überlebende des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023. Glauben Sie, das wird den Auftritt politisch zusätzlich aufladen?
Israel ist schon seit 1973 Teil des Wettbewerbs. Ich denke aber auch, dass diese Tatsache politisch genutzt werden wird, das war in Malmö so und das wird wohl auch bei uns so sein. Für Basel ist das nichts Neues, wir kennen Demonstrationen zum Nahostkonflikt. Bezüglich Sicherheit hat man auch viel aus den Erfahrungen von Malmö gelernt.
Dass es auch in Basel pro-palästinensische bzw. anti-israelische Proteste geben wird, scheint als ausgemacht. Was kann Basel zur Deeskalation beitragen?
Ich glaube, in erster Linie können natürlich diejenigen zur Deeskalation beitragen, die ihre politische Meinung äussern möchten. Sie können das auf eine Art tun, die nicht diskreditierend ist und den Menschen ermöglicht, sich sicher zu fühlen und das Fest trotzdem zu leben. Das kann durchaus gelingen, wie friedliche Demonstrationen zeigen. Die Verantwortung der Stadt ist es, sicherzustellen, dass politische Meinungsäusserungen, in welcher Form auch immer, friedlich bleiben und nicht den versöhnlichen Charakter des ESC tangieren. Wir werden selbstverständlich deeskalierend auftreten. Die Sicherheitskräfte, die uns unterstützen, haben viel Erfahrung in dem Bereich.
Was halten Sie von den Stimmen, die einen Ausschluss Israels analog zu Russland fordern, das nicht teilnehmen darf?
Die EBU entscheidet über den Kreis der Teilnehmenden. Für mich ist ganz klar, dass Israel dabei ist, Israel gehört in die EBU-Familie. Wie übrigens auch Australien, das ist auch eine Spezialität, die den ESC auszeichnet. Beides stelle ich in keiner Weise infrage.
Basel ist ein symbolträchtiger Ort für Israel, da hier 1897 der erste Zionistenkongress stattfand, an dem die Vision eines israelischen Staates erstmals formuliert wurde. Ergibt das eine zusätzliche politische Brisanz?
Ich glaube nicht. Basel hat in der Vergangenheit immer gezeigt, dass es eine europäische Stadt ist. Wir gehen bewusst mit unserer Geschichte und auch mit unserer Grenzsituation um. Wir tun dies in einer offenen und toleranten Art. Zu Basel gehört selbstverständlich auch das jüdische Leben, wir haben eine sehr lebendige und verhältnismässig grosse jüdische Community. Das ist Teil der DNA von Basel. Auch das möchten wir Europa zeigen.
Ist ein besonderer Schutz der jüdischen Einrichtungen nötig? Der Vizepräsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, Ralph Lewin, forderte im Bajour-Interview auch den Schutz der israelischen Delegation. Wie kann beides sichergestellt werden?
Es ist das oberste Ziel in der Organisation, dass sich sämtliche Teilnehmende, aber auch alle Leute, die in Basel wohnen, während des ESC wohl und sicher fühlen können. Das stellen wir während des Events sicher, wie wir es auch bei anderen Anlässen tun.
Ist der Regierungsrat im Austausch mit der jüdischen Gemeinschaft?
Wir sind immer im Austausch mit der jüdischen Gemeinschaft. Es gibt ja bereits Sicherheitsmassnahmen, über die wir laufend im Austausch sind. Wir versuchen, auf die Bedürfnisse einzugehen.
Ist der ESC gerade kein besonderes Thema?
Es ist nicht nötig, spezielle Gesprächskanäle zum ESC zu etablieren, weil wir bereits im Austausch sind. Aber selbstverständlich sprechen wir mit den Angehörigen von verschiedenen Nationen, die ein Interesse haben, mit den Delegationen ihrer Länder in Kontakt zu kommen. Zurzeit laufen sehr viele Gespräche.
«Man kann auch sagen, dass nichts unpolitisch ist, was öffentlich stattfindet.»Conradin Cramer über die Trennung von Kultur und Politik
Am liebsten würde die Organisator*innen vermutlich den verschiedensten Teilnehmer*innen vorgeben, sich politisch gar nicht zu äussern. Aber dann würde es wohl Zensurvorwürfe hageln. Können Basel oder die SRG Einfluss darauf nehmen, ob sich Teilnehmer*innen im Vorfeld oder am Wettbewerb politisch äussern?
Die Teilnahmebedingungen, sozusagen die AGBs der Show, sind Sache der EBU. Wir haben uns für die Durchführung von diesem ESC beworben, aber die Show-Inhalte machen wir nicht. Ich bin aber überzeugt, dass der ESC als Ganzes sehr gut zu Basel und zu unseren Werten passt. Darum haben wir uns auch beworben.
Ist es nicht absurd, Politik und Kultur trennen zu wollen bzw. so zu tun, als gäbe es die aktuellen Konflikte und Kriege nicht?
Ich glaube, die Kategorisierung von politisch und unpolitisch ist sowieso nicht ganz trennscharf. Man kann auch sagen, dass nichts unpolitisch ist, was öffentlich stattfindet. Ich glaube, dass der Kerninhalt des ESC eine Fernsehshow ist, die Freude machen soll, und gleichzeitig die politische Dimension im Sinne von «United by Music» hat. Und es gibt Leute, denen das nicht passt. Auch die Fussball-Europameisterschaft, die kurz nach dem ESC stattfinden wird, ist so gesehen politisch.
Inwiefern?
Letztlich gilt auch hier das Konzept der Nationen, gegeneinander anzutreten. Im Fussball vielleicht sogar mit mehr Ernst. Beim ESC finde ich es eine schöne Art, mit Selbstironie gegeneinander anzutreten, auch das Voting wird auf lustige Art zelebriert. Ich finde es schön, wie es gelingt, das Konzept von Nationen, die sich messen, in einen fröhlichen Rahmen zu bringen. Das hat etwas Politisches im versöhnlichen Sinn.
Sie haben von der Stadt Malmö einen Mantel geschenkt bekommen, auf dem «Democracy» steht. Ist das ein schönes kulturelles Geschenk oder eine – versteckte – politische Botschaft?
Ich habe mich darüber gefreut. Die Vertreterinnen aus Malmö haben den Mantel mit einer grossen Ernsthaftigkeit übergeben. Sie haben betont, dass sie zu ihren Werten stehen. Auch wir wollen Basel in Europa nicht nur mit der schönen Kulisse zeigen, sondern auch, dass Basel eine Stadt an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich ist, die für Offenheit steht. Das ist unsere Hauptbotschaft. Beim Schriftzug «Democracy» musste ich schmunzeln.
Warum?
Weil wir aufgrund des Volksentscheids der demokratischste ESC sind, den es je gegeben hat. Ich bin stolz, wenn ich von diesem Volksentscheid erzählen darf und aufzeigen kann, dass das Volk die Möglichkeit hatte, mitzuentscheiden. Das ist doch ein Vorzeigebeispiel für die direkte Demokratie.
«Die Meinungsäusserungsfreiheit ist einerseits zu wahren, andererseits müssen wir die Sicherheitsbedürfnisse von allen Menschen, die nach Basel kommen, gewährleisten.»Conradin Cramer über ein mögliches Demoverbot am ESC
Die Debatte um Leila Moon, in der es darum ging, welche politischen Aussagen Künstler*innen machen dürfen, könnte sich im Zuge des ESC wiederholen. War diese Debatte quasi ihr Trainingsprogramm für das, was Sie rund um den ESC erwartet?
Die Debatte hat gezeigt, dass der Nahostkonflikt in Basel enorme Emotionen auslöst. Verhärtungen sind da, das war auch erschreckend. Beim ESC hat die Stadt Basel hat keinen Einfluss darauf, wer auftritt, wie die Leute auftreten und woher sie kommen. Das ist alles Teil der ESC-Show. Ich gehe davon aus, dass die Teilnehmenden respektvoll auftreten.
Mit dem ESC stellt sich die Frage, wie die Regierung sich gegenüber schwierigen Aussagen, wie sie durch den Nahostkonflikt auch in den nächsten Monaten getätigt werden dürften, verhalten will. Braucht es mehr Mut?
Wir haben eine grosse Klarheit seitens des Kantons Basel-Stadt darüber, dass wir keine Hassbotschaften und Diskriminierungen dulden. Das ist in der Praxis immer sehr klar.
Wird sich die Regierung zum Begriff «Genozid» oder einschlägigen Slogans positionieren?
Wir tolerieren alle Aussagen, die unter die Meinungsäusserungsfreiheit fallen. Was antisemitisch ist und gegen die Antirassismus-Strafnorm verstösst, tolerieren wir nicht.
Können Sie schon sagen, ob Demos während oder im Vorfeld des ESC bewilligt werden?
Die Sicherheitsbehörden schätzen die Lage laufend neu ein. Wir haben Januar, die Situation kann sich bis Mai noch ändern. Es ist an den Sicherheitsbehörden, das zu bestimmen.
Wenn sich ein grosser Proteststurm abzeichnet, wäre ein Demoverbot für den Finaltag denkbar?
Das hängt von der Lage ab und davon, was die Sicherheitsbehörden entscheiden. Die Meinungsäusserungsfreiheit ist ein hohes Gut. Dieses Gut ist einerseits zu wahren, andererseits müssen wir die Sicherheitsbedürfnisse von allen Menschen, die nach Basel kommen, gewährleisten. Das sind die Prämissen, und die Sicherheitsbehörden entscheiden.
Vielen Dank für das Gespräch.