10-Millionen-Schweiz: Schrecken oder Wunschvorstellung?

Die Angst vor der Zuwanderung und immer stärkerer Verdichtung ist verständlich und lässt sich politisch in einfache Erfolge umsetzen. Es zeichnet sich aber ab, dass der Kampf gegen Zuwanderung bald einem Kampf um Migrant*innen weichen wird. Andere Länder haben das bereits erkannt, kommentiert Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

Wochenkommentar 10 Mio Schweiz
(Bild: KEYSTONE/Gaetan Bally/Collage: Bajour)

Im Dreiländereck zwischen der Schweiz, Frankreich und Deutschland gibt es gefühlt keine Grenzen. Dieses Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten können längst nicht alle in der Schweiz teilen. Zu ihrem Alltag gehören keine Grenzgänger*innen, für sie ist es eher ungewöhnlich, von jemandem auf «Schriftdeutsch» bedient zu werden und sie kaufen auch nie hinter der Grenze ein. Sie sehen also nicht unbedingt den Nutzen der Personenfreizügigkeit oder des Binnenmarkts, so wie es die Menschen in Basel-Stadt oder Baselland zu einem grossen Teil tun. Dass die Region Wirtschaftsmotor der Schweiz ist – auch dank der Freizügigkeit? Kommt in der Restschweiz nicht unbedingt an.

Fern der Grenzstädte trifft die «Nachhaltigkeitsinitiative» der SVP, die eine Begrenzung der Bevölkerung in der Schweiz auf unter 10 Millionen Menschen bis 2050 fordert, auf fruchtbaren, urschweizerischen Boden. Und was hält der Bundesrat dem entgegen? Wenig. Der Bundesrat lehnt die Initiative ab – ohne direkten Gegenentwurf oder indirekten Gegenvorschlag. Bundesrat Beat Jans soll es mit ein paar Gegenmassnahmen richten, stösst mit seinen Vorschlägen bei seinen Kolleg*innen bisher aber auf wenig Unterstützung. Der Bundesrat ist dezidiert gegen die SVP-Initiative, die aus seiner Sicht «den Wohlstand, die Wirtschaftsentwicklung und die Sicherheit in der Schweiz» gefährde. Schafft es aber nicht, gemeinsam einen Kompromiss zu erarbeiten, und lässt den Basler SP-Bundesrat im Regen stehen.

Die SVP kann ihre Initiative seit Monaten pushen, ohne dass der Stimmbevölkerung ein überzeugendes Gegenargument präsentiert wurde.

Wie geleakt wurde, versucht Jans es offenbar unter anderem mit sozialen Massnahmen wie höheren Kinderzulagen, strengerem Mieterschutz, einem Kündigungsschutz für ältere Angestellte und mehr Wohnbauförderung. Bürgerliche kann man damit nicht gewinnen. Dazu sollen Nicht-EU-Ausländer*innen bei Arbeitslosigkeit künftig weniger Sozialhilfe erhalten als Schweizer*innen. Was er noch aus dem Ärmel schüttelt, weiss man nicht. Aber der grosse Durchbruch blieb bisher aus. Beat Jans sei «im Bundesrat aufgelaufen», konstatiert die NZZ

Die SVP kann ihre Initiative seit Monaten pushen, ohne dass der Stimmbevölkerung ein überzeugendes Gegenargument präsentiert wurde. Diese meinungsbildende Enthaltsamkeit ist bemerkenswert, geht man davon aus, dass die aktuellen EU-Verhandlungen das wichtigste Dossier der Schweizer Bundespolitik darstellen. Und der Bundesrat bekommt ein Zeitproblem. In den kommenden Wochen, bis Ende Jahr, sollten eigentlich die Verhandlungen zu den Bilateralen III abgeschlossen werden. Weiterhin grösster Streitpunkt: Eine Schutzklausel zur Einwanderung, bei der sich die EU unnachgiebig zeigt.

Während wir hier an einem wirtschaftlich nicht machbaren Ideal eines Aufschwungs ohne Zuwanderung hinterher diskutieren, haben das andere Länder längst erkannt: Allen voran Spanien.

Die SVP versucht, die Schweiz mit der Angst vor der 10-Millionen-Schweiz aus den Bilateralen III zu drücken. Die Zuwanderung treibt viele Menschen um. Die Bevölkerung der Schweiz ist in den vergangenen Jahrzehnten massiv gewachsen, das geht an der Infrastruktur nicht spurlos vorüber. Knapper Wohnraum, steigende Strompreise und hohe Gesundheitskosten beschäftigen die Menschen. Das Problem ist, dass wir heute wählen können und müssen, wie wir morgen leben werden. In Wohlstand, aber in grosser Gesellschaft oder schön für uns allein, aber mit deutlich weniger Geld.

Während wir hier an einem wirtschaftlich nicht machbaren Ideal eines Aufschwungs ohne Zuwanderung hinterher diskutieren, haben das andere Länder längst erkannt: Allen voran Spanien. Das Land, das inzwischen zur Wachstumslokomotive Europas geworden ist. Zuwanderer*innen werden dort nicht als Problem gesehen, sondern als Bereicherung. Der spanische Premier Sánchez bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, Spanien habe sich entscheiden müssen, ob es künftig reich und offen oder arm und verschlossen sein wolle.

Nirgendwo auf der Welt wurde die Zuwanderungspolitik so nah dem SVP-Ideal entsprechend umgesetzt, wie in Japan. Die Ausländer*innenquote beträgt ein paar wenige Prozent. Wer allerdings die dortige Wirtschaftsentwicklung betrachtet, bei einer ähnlichen Geburtenrate wie bei uns, kommt zum Schluss, dass der spanische Premier vermutlich nicht ganz unrecht hat. Und vielleicht wird die 10-Millionen-Schweiz, die jetzt der rührige Jans abwenden soll, bald kein Schreckgespenst, mit dem man Handelsabkommen versenkt, sondern eine Utopie, die man gerne erreichen würde, weil sie Wohlstand und Fortschritt verspricht.

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Kommentare

Ruedi Basler
Sozial-Pädagoge

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Ohne Zuwanderung würde in der Schweiz kein Spital, kein Alters-oder Pflegeheim, kein Restaurant / Hotel funktionieren. Kein Meter Strasse gebaut, keine Strasse gewischt, keine Früchte oder Gemüse geerntet, kein Müll abgeholt, kein Park gesäubert, keine Putzinstitute, keine Garten-oder Waldarbeiten, kein Tankstellenshop wäre offen, Post / Paketpostverteilzentren funktionieren nicht, FliessbandarbeiterInnen gibt es keine, private Paketlieferdienste gibt es keine, die Lebensmittelbranche kann schliessen. Das wissen die meisten, aber zuviele blenden diese Tatsachen aus oder verleugnen sie. Ich bin auch für eine Einschränkung. Aber erst wenn die Wirtschaft beweist, dass sie SchweizerInnen für diese meist Billig-Lohn-Branchen findet und auch anstellt.