Wir sehen uns 2080! Oder auch nicht.
Wer Projekte bis 2080 plant, kann entweder hellsehen oder mag nicht zugeben, dass man keinen Plan hat. Das de facto begrabene Herzstück sollte uns zum Mahnmal werden, dass wir dringend zukunfts- und gestaltungsfähiger werden müssen, kommentiert Chefredaktorin Ina Bullwinkel.
Das Herzstück soll die ÖV-Zukunft der Region Basel prägen. Der Plan: Eine unterirdische S-Bahn, die die grossen Bahnhöfe Basel SBB, St. Johann und Badischer Bahnhof miteinander verbindet. Es geht dabei um nicht weniger als das Verbindungsstück, das die heutige Lücke im trinationalen S-Bahnnetz schliessen soll. Ein Projekt, das sich viele Basler*innen und Pendler*innen wünschen, aber auch grosse Baustellen über viele Jahre bedeutet. Bis vor Kurzem sah die Planung noch vor, dass das Herzstück bis Mitte des Jahrhunderts existieren wird. Das erschien lang, aber doch irgendwie absehbar.
Der Zeitplan wurde jedoch angepasst. Wie diese Woche bekannt wurde, wird das Herzstück – ungefähr – im Jahr 2080 fertig sein. Also in 55 Jahren. Alle, die aktuell mit dem Projekt befasst sind, befinden sich dann im Ruhestand oder sind lange tot. Positiv formuliert wäre das Herzstück damit ein sehr zukunftsträchtiges Projekt. Es stellt sich aber die Frage, ob irgendwas bis ins Jahr 2080 ernsthaft planbar ist. Und selbst wenn. Während Milliardäre andere Superreiche für zehn Minuten ins All schiessen können, sollen hierzulande die Menschen ein halbes Jahrhundert auf ein modernes S-Bahnnetz warten? Das ist mehrheitstechnisch irgendwie schwer vermittelbar.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir heute keine Ahnung haben, was 2080 zwischen den Basler Bahnhöfen gefragt sein wird.
55 Jahre zurück, 1970: Wir befinden uns in einer Welt ohne Smartphones, ohne Touchscreens, ohne Apps, ohne AI und ohne E-Mobilität. Wer einen Farbfernseher hatte, galt als Early Adopter. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass wir heute keine Ahnung haben, was 2080 zwischen den Basler Bahnhöfen gefragt sein wird.
Eine Prognose für 2080 hat vor ein paar Tagen der renommierte britische Stadtforscher Greg Clark abgegeben. Er geht davon aus, dass in 55 Jahren mehr als 10 Milliarden Menschen auf der Erde und 90 Prozent von ihnen in Städten oder urbanen Gebieten leben werden. Aus seiner Sicht wird die Weltbevölkerung dann zahlenmässig ihren Höhepunkt erreicht haben und anfangen zu schrumpfen – davon gehen auch die Vereinten Nationen aus. Mit anderen Worten: Sobald das Herzstück fertig ist, wird es schon bald immer weniger Leute geben, die es benutzen werden – falls der demografische Wandel seinen projektierten Lauf nimmt. Eine Garantie gibt es aber nicht: Kriege, Pandemien und Naturkatastrophen können schon vorher alles verändern.
Plant eigentlich weltweit irgendwer so weit in die Zukunft, ausser die Schweizer Eidgenossenschaft und der Kanton?
Wenn Projekte vorgestellt werden, die erst in 55 Jahren realisiert werden können, sagt das vor allem aus, dass wir nicht mehr in der Lage sind, etwas in nützlicher Frist zustande zu bringen.
Für die Bevölkerung ist solch eine Planung nicht nur kaum greifbar, sondern ärgerlich. Es wirkt, als habe man keinen Plan, sagt aber stattdessen, man habe einen bis 2080. Der Gotthardtunnel wurde innert zehn Jahren, von 1872 bis 1882, gebaut und diese Projektfähigkeit bildet den Kern, aus dem die heutige Eidgenossenschaft entstand. Wenn heute Projekte vorgestellt werden, die erst in 55 Jahren realisiert werden können, sagt das vor allem aus, dass wir nicht mehr in der Lage sind, etwas in nützlicher Frist zustande zu bringen.
Vielleicht wäre es deshalb besser, das Herzstück zu begraben und sich angesichts dieser Planungsleiche in einer grossen Debatte die inzwischen offensichtliche gestalterische Unfähigkeit unserer Gesellschaft in wichtigen Fragen einzugestehen. Und sobald wir wieder handlungsfähig sind, sollten wir uns an die Umsetzung anderer, dringender Stillstandsprojekte machen. Und zwar mit Elan und Tempo. Dann wäre das Herzstück wenigstens für etwas gut gewesen. Etwa mit einem 2050-Plan fürs Wohnen. 2080 bin ich 90 Jahre alt. Ich werde ein Update geben, wie es gelaufen ist.