Sicherheit oder Freiheit

Das eigene Sicherheitsgefühl kann sich mitunter mit den Ideen einer liberalen Gesellschaft beissen. Wir dürfen wegen eines Einzelfalls nicht dem Reflex verfallen, moralische Grundsätze über den Haufen zu werfen, und müssen mit Risiken leben, so schmerzhaft es ist, kommentiert Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

Wochenkommentar Nasenweg Freiheit Sicherheit
(Bild: Adobe Stock/Collage: Bajour)

Bloss wegsperren und den Schlüssel fortschmeissen. Dieser Gedanke dürfte nach dem Tötungsdelikt an einer 75-jährigen Frau in der Basler Breite vielen Menschen gekommen sein. Der mutmassliche Täter, der als dringend verdächtig gilt, hat vor zehn Jahren im selben Haus eine Frau umgebracht und eine weitere Frau in einer nahe gelegenen Liegenschaft ermordet. Der Mann, wegen einer schweren psychischen Erkrankung nicht schuldfähig, wurde damals zu einer therapeutischen Massnahme in die UPK eingewiesen. Zum Zeitpunkt, als die 75-Jährige umgebracht wurde, befand er sich auf einem unbegleiteten Freigang. Ob er auch im aktuellen Fall der Täter ist, untersucht derzeit die Kriminalpolizei mit einer Sonderkommission. 

Der Fall hat die Menschen in Basel und über die Kantonsgrenzen hinweg schockiert. Solch eine Tat, vollkommen aus dem Nichts, rüttelt am Sicherheitsgefühl. Zufallsopfer zu werden – so etwas könnte einem selbst oder einem geliebten Menschen zustossen. Wer weiss schon, wozu eine (psychisch kranke) Person im Affekt fähig ist? Das Unberechenbare daran macht Angst und kann die eigenen Grundsätze in Bezug auf Resozialisierung infrage stellen.

Beim menschlichen Versagen in der Risikobeurteilung müsste man ansetzen, um die Risiken weiter zu verringern, dass schwere Straftäter*innen, die sich in Therapie befinden, nicht rückfällig werden können.

Der Reflex, nach mehr Repression zu rufen, nach strengerer Verwahrung und härteren Auflagen für Freigänge, erscheint nachvollziehbar. Auch bei unserer Frage des Tages stimmte eine deutliche Mehrheit dafür, den unbegleiteten Freigang für schwere Straftäter*innen abzuschaffen. Maximal vorsichtig sein, so viel Sicherheit wie möglich. 

Das scheint die logische Folge zu sein, doch dieser Ansatz widerspricht den Grundsätzen einer liberalen Gesellschaft. «Man kann wegen eines schrecklichen Vorfalls nicht das ganze System infrage stellen», sagte Dirk Baier, Leiter Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, diese Woche gegenüber Bajour und er hat recht. Der aktuelle Fall muss genau angeschaut werden – menschliches Versagen ist bei der Risikobeurteilung momentan nicht auszuschliessen. Dort müsste man also ansetzen, um die Risiken weiter zu verringern, dass schwere Straftäter*innen, die sich in Therapie befinden, nicht rückfällig werden können und sich Tötungsdelikte wie am Nasenweg nicht wiederholen.

Das System kann noch so gut sein – ein Restrisiko bleibt. Ein Leben in 100-prozentiger Sicherheit kann es für niemanden geben.

Dort beginnt aber das Dilemma: Das System kann noch so gut sein – ein Restrisiko bleibt. Ein Leben in 100-prozentiger Sicherheit kann es für niemanden geben. Also doch alle schweren Straftäter*innen lebenslang wegsperren? So einfach ist es nicht.

Es können nicht alle Straftaten durch Repression oder Abschreckung verhindert werden, sonst würden etwa in den USA, wo die Todesstrafe droht, keine Morde mehr begangen. Das ist bekanntlich nicht der Fall. So zynisch es klingt: Die Freiheit einer Gesellschaft bemisst sich auch danach, wie sie mit Restrisiken umgeht. 

Es bleibt der Anspruch, die Menschen zurück in die Gesellschaft zu integrieren und ihnen eine zweite Chance zu geben. Eine Verwahrung sollte die Ausnahme bleiben.

Wir erleben das auch in anderen Bereichen. Etwa bei Verkehrstoten, von denen jede*r eine*r zu viel ist. Es käme aber niemandem in den Sinn, die gesamte Mobilität zu verbieten. Seit den 70er-Jahren haben wir es geschafft, die Anzahl der Verkehrstoten um mehr als 80 Prozent zu senken. Mit Massnahmen. Und mit Vertrauen in diese Massnahmen wurden die Risiken minimiert. Nicht mit absoluten Verboten oder dem absoluten gesellschaftlichen Verzicht auf Freiheit. Es gäbe noch diverse Beispiele.

Kriminologe Baier erinnert daran, dass die Resozialisierung der Auftrag des Straf- und Massnahmenvollzugs ist und die Sicherheit diesem nachgeordnet sei. Wir dürfen nicht vergessen: Freiheitsentzug ist ein harter Eingriff in die Grundrechte. Er muss gut begründet sein. Wer ein schweres Verbrechen begeht, setzt diese Rechte aufs Spiel und bekommt sie als Bestrafung entzogen, zur Not auf Dauer. Trotzdem bleibt es der Anspruch, die Menschen zurück in die Gesellschaft zu integrieren und ihnen eine zweite Chance zu geben. Eine Verwahrung sollte die Ausnahme bleiben. Ob sie im Fall am Nasenweg das richtige Mittel ist, wird sicher geprüft. Mein individuelles Sicherheitsgefühl entscheidet zu Recht nicht darüber.

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Das ist Ina (sie/ihr): Nach journalistischen Stationen u. a. in Bremen (Volontärin, Weser-Kurier) und Berlin (Redaktorin am Newsdesk, ntv.de) hat es Ina mitten in der Corona-Pandemie zu Bajour verschlagen. Dank Baseldytsch-Kurs hat sie sich schnell dem Dialekt der Einheimischen angenähert – ihre Mundart-Abenteuer hält sie regelmässig im Basel Briefing fest. Seit April 2023 ist Ina Chefredaktorin und im Wochenkommentar «Bullwinkels Blickwinkel» teilt sie einmal die Woche ihre Meinung zu aktuellen (meist politischen) Themen.

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