Tonja demonstriert sich frei
BastA!-Grossrätin Tonja Zürcher geht den schmalen Grat zwischen zivilem Ungehorsam und parlamentarischer Politik. Wie geht das?
Im Mai ist Tonja Zürcher traurig. Sie hat getan, was sie immer wieder tut: Sie war an einer unbewilligten Demonstration. Doch es ist das Jahr 2020, es herrscht Corona und es gelten Hygienemassnahmen. Menschenansammlungen von über fünf Personen sind verboten. Und damit auch die Demo am 1. Mai.
Tonja Zürcher ist Feministin, Aktivistin, Umweltschützerin. Und praktisch an jeder Demo anzutreffen: Ob Nazifrei, Critical Mass oder Klima, ob bewilligt oder nicht – die 37-Jährige läuft fast immer mit. Vielen bürgerlichen Politiker*innen ist das suspekt, denn: Zürcher ist auch Grossrätin. Ihre Partei ist zwar «Basels starke Alternative», BastA!, die sozialen Bewegungen schon immer näher stand als dem Staat.
Doch weil eine Pandemie herrscht, kommt die Kritik an diesem 1. Mai für einmal auch von links. Harald Friedl, Präsident der Grünen sowie SP-Präsident Pascal Pfister finden es beide «unverantwortlich», unter den jetzigen Umständen an einer Demonstration teilzunehmen, wie sie dem «SRF» kurz darauf sagen. Die bürgerlichen Jungparteien fordern Zürchers Rücktritt.
«Ich muss mich schützen»
Parteikollegin und Nationalrätin Sibel Arslan rät Zürcher, sich zu ducken: «Das geht wieder vorbei.» Zürcher macht, was ihr geraten wird und nimmt keine Medienanfragen mehr an. Auch die von Bajour nicht. Wir wollen ein Porträt von ihr schreiben, sie lehnt ab: «Ich muss mich schützen.»
Samstag, 22. August.
Die Sonne geht hinter der Dreirosenbrücke unter, auf der Anlage bedruckt Tonja Zürcher ein T-Shirt und lächelt: «Basel 2030». Die Initiative fordert, dass Basel die Treibhausgasemissionen bis 2030 auf netto null senkt. Heute treffen sich die Aktivist*innen zu einem Picknick.
Arslan hatte Recht: Der Sturm ist vorbeigezogen. Und Zürcher ist doch noch auf die Bajour-Anfrage wegen eines Porträts eingegangen. Ihre Bedingung: «Du musst mich richtig kennenlernen.»
Das Kennenlernen ist gar nicht so einfach
Spätestens seit den Fridays for Future tobt die Debatte, was die Ausserparlamentarische Opposition darf und muss. Und wann Widerstand angesichts jahrzehntelangem, vermeintlichem Stillstand der politischen Institutionen langsam zur Pflicht wird. Etablierte Politiker*innen verlieren die Fassung, die Jungen die Geduld, die Medien die Deutungshoheit.
Mittendrin, zwischen allen Fronten, bewegt sich Tonja Zürcher. Niemand geht den schmalen Grat zwischen drängendem Ungehorsam und parlamentarischem Konsens so entschlossen wie sie. Aber ohne schmerzhafte Abstürze kriegt das auch die BastA!-Politikerin nicht hin.
Tonja Zürcher kennenzulernen, ist gar nicht so einfach. In den letzten vier Monaten habe ich mit der «linksten» (Smartvote) oder gar «extremsten» (Vimentis) Politikerin Basels Kaffee getrunken, sie an den feministischen Streik begleitet, mit Klimaaktivist*innen gepicknickt und ein Podium sowie eine Sitzung besucht. Und doch war’s zu wenig Zeit. So links Tonja Zürchers Positionen sein mögen, so zurückhaltend ist sie im Auftreten.
So höflich können Feminist*innen sein
Viele Politiker*innen zeigen sich in der Öffentlichkeit gerne von ihrer besten Seite (mit Ausnahmen). Aber wenn man sie längere Zeit beobachtet, blitzen auch mal Untiefen durch. Thomas Kessler (FDP) hört sich am liebsten selber reden, Eva Herzog (SP) staucht Leute zusammen und Baschi Dürr (FDP), der Militärkarriere-Verweigerer, führt sich beim Smalltalk vor dem Interview auf wie ein Kommandant: «So, was ist der Plan?»,
Tonja Zürcher dagegen verzieht nicht mal eine Miene, wenn man ihr mit einem sexistischen Spruch über Frauen und Technik kommt. Sie tut einfach so, als habe sie’s nicht gehört.
2. Juni, 19 Uhr: Zoom-Sitzung des feministischen Kollektivs.
Das Gesicht von Tonja Zürcher am Bildschirm verschwindet in einem Haufen von Aktivist*innen. Zwei Frauen moderieren durch die Sitzung. Sie bereiten den 14. Juni vor, den feministischen Streik-Tag. Sie wollen Liegestühle auf verschiedenen Basler Plätzen aufstellen, auf denen Feminist*innen «fraulenzen» und sich «queerstellen» und von der Care-Arbeit erholen können.
Zürcher sagt kaum etwas, erst bei der Frage «Polizeibewilligung oder nicht?» hebt sie die Hand. Die Moderatorin gibt Zürcher das Wort, die sagt: «Ich fände es gut, wenn wir Bewilligungen einholen würden. Wir brauchen Plätze, wo wir bleiben dürfen.» Zürcher bietet an, eine Bewilligung für den Theaterplatz einzuholen und dort die Technik und so weiter zu organisieren.
Zwei Dinge fallen auf an diesem Treffen am Bildschirm:
Diese Besprechung ist durchgeplanter als jede Redaktionssitzung...
...und höflicher als manche Parteiversammlung.
Die Aktivist*innen zeigen per Handzeichen an, wenn sie etwas sagen wollen und sprechen nur, wenn sie aufgerufen werden. Niemand unterbricht andere, alle werden respektvoll angehört, nein, noch mehr: Die Moderatorinnen bedanken sich bei jeder Aktivist*in, die*der sich meldet: «Wir freuen uns sehr, dass du dabei bist.»
Es ist eine Art des Miteinanders, wie geschaffen für eine Person wie Zürcher, die wenig redet, aber viel sagt. Wobei, sie verschafft sich auch an klassischen Politveranstaltungen Gehör.
25. August, 19 Uhr: Quartiertreffpunkt Kleinhüningen.
Tonja Zürcher sitzt auf der Bühne. Neben ihr Christoph Brutschin, Regierungsrat der SP und Martin Forter, Altlastenforscher und Umweltaktivist. Es geht um Giftmüll. Brutschin und Forter reden viel und lang über irgendwelche Gesetze und Verordnungen des Bundes, die Giftmüllanalysen im Klybeck regeln (oder eben nicht). Sie sind erst still, wenn die Moderatorin sie unterbricht.
Zürcher sitzt dazwischen, schweigt und lächelt. Wartet, bis die Moderatorin ihr das Wort gibt. Macht dann ihre Punkte: angriffig in der Sache, ruhig im Ton. Sie zitiert aus den Bauplänen im Quartier (sie ist in der Bau- und Raumplanungskommission), aber aus der Perspektive der Quartierbewohner*innen: «Es empört mich, dass der Kanton das Klybeck nicht flächendeckend auf Giftmüll untersucht. Hier spielen Kinder, hier bauen Leute im Garten Gemüse an.» Erklärt den Zuhörer*innen, welche Möglichkeiten die Politik aus ihrer Sicht hat: «Die Regierung könnte die Kosten einer Analyse mal auflisten und einen Ratschlag machen.»
Miteinander gegeneinander
Hier der Aktivismus, dort die Realpolitik. Es sind zwei Milieus, die total unterschiedlich funktionieren. Die Sprache der Realpolitik ist die der Konkurrenz: Innerhalb der Partei muss man sich für mächtige Pösteli gegen Parteifreund*innen durchsetzen. Und im Parlament eigene politische Forderungen gegen die Exponent*innen anderer Parteien. Macht man einen Fehler oder exponiert sich, fallen harte Worte. Aber hier werden Gesetze nicht nur gemacht, sondern auch eingehalten.
Anders im Aktivismus von Zürcher. Dort wird darauf geachtet, dass jede Minderheit respektiert und zu Wort kommt; Menschen mit Migrationshintergrund ebenso wie Personen, die nicht den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entsprechen. Niemand darf mehr Macht haben als die*der andere, Individuen sollen gesehen, aber im Kollektiv aufgehen. Dafür nimmt man's mit den Gesetzen nicht so streng, ziviler Ungehorsam gilt als probates politisches Mittel.
«Eine unbewilligte Demo ist nicht per se illegal», sagt Zürcher. «Demonstrieren ist ein Grundrecht.» Sie war an der Nazifrei-Demo gegen die Pnos, wegen der aktuell mehrere Aktivist*innen zu hohen Strafen verurteilt worden sind. Sie war in Frankfurt an der Blockupy-Demo.
Polizist*innen beschimpfen ist...
Physische Gewalt gegen Polizist*innen verurteilt Zürcher, hat aber sogar Verständnis, wenn Demonstrant*innen manchmal Beamte beschimpfen, wie etwa an der feministischen Demo am 14. Juni (da war Zürcher allerdings nicht dabei).
«Wenn du eingekesselt bist und vor dir stehen Polizist*innen mit heruntergelassenem Visier und du siehst ihr Gesicht nicht – das löst einen Fluchtreflex aus. Manche macht’s aggressiv», sagt Zürcher. Ihre Rolle als Parlamentarierin sieht sie im Vermitteln: «Manchmal kann meine Anwesenheit deeskalieren. Ich gehe aber primär als Aktivistin an Demos, nicht in meiner Rolle als Grossrätin.»
Diese Haltung kommt bei FDP-Grossrat Luca Urgese nicht gut an: «Das ist ein Affront allen Polizistinnen und Polizisten gegenüber, die Tag und Nacht für unsere Sicherheit im Einsatz sind.» Dass die Polizei ihren Job mache, sei sicher keine Rechtfertigung für Beschimpfungen.
Zurück ans Picknick der Klimaaktivist*innen in der Dreirosenanlage.
Dort steht auch SP-Doyen Rudolf Rechsteiner im Gras. Auf Zürcher angesprochen, lächelt er fein, sagt dann: «Tonja macht Politik, nicht Kosmetik». Was heisst das? Rechsteiner zögert: «Nun ja, sie gibt sich ja ein bisschen wie ein Mann mit ihren kurzen Haaren.»
Rechsteiner, Jahrgang 58, meint das tatsächlich als Kompliment: Er findet Tonja Zürchers Auftreten «mutig». «Es passt zu ihrer linken Politik.»
Zürcher wuchs im Aargau mit einer Vorliebe für «Schlammpfützen» und Kletterbäume auf. Musste die eine oder andere Mobbingerfahrung machen. Viel sagt sie nicht dazu, «das geht mir schnell zu tief». Ist jetzt ja auch vorbei: «Seit ich meinen Platz in der Welt gefunden habe, bin ich sehr im Reinen mit mir. Belastbar.»
Dieser Platz in der Welt war früh ein politischer: Noch im Aargau gründete Zürcher mit Freundinnen einen Treffpunkt für junge homo- und bisexuelle Frauen, trat der SP und später den jungen Grünen bei und bekämpfte die Auslagerung des Elektrizitätswerks. «Mit Erfolg», wie sie mit Zufriedenheit in der Stimme sagt.
Vom Aargau ins Klybeck
Später studiert sie in Basel Gender Studies, Soziologie und nachhaltige Entwicklung, wohnt (bis heute mit ihrer Lebenspartnerin) im günstigen Klybeck, regt sich über die Gentrifizierungspläne «Rheinhattan» auf und tritt unter anderem deswegen der BastA! bei. Fünf Jahre lang war sie deren Co-Präsidentin, ihren Lebensunterhalt verdient sie beim WWF.
Realpolitik ist für Zürcher Mittel zum Zweck: «Als Grossrätin kann ich Menschen eine Stimme geben, die sonst keine haben.» Etwa einem Afghanen, der ausgeschafft werden sollte. Basel behielt ihn gegen die Weisung des Bundes hier – wegen einer Petition. Die Präsidentin der Petitionskommission ist: Tonja Zürcher.
Oder bei der Wohndebatte. Seit Jahren leiden viele Basler*innen unter steigenden Mietpreisen und Wohnungsmangel. Doch es passierte wenig unter der rotgrünen Regierung, die mit Immobilien Basel-Stadt lieber Rendite bolzte, statt Mieten zu senken. Dann brachte die Linke die vier Wohnschutzintiativen – die Bevölkerung nahm alle vier an.
Speziell daran: Bei der Abstimmung engagierten sich nicht nur Parteipolitiker*innen, sondern auch der Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter, die Kirchen und: Menschen aus der Hausbesetzer*innenszene, die häufig nicht gewillt sind, sich mit Realpolitiker*innen an einen Tisch zu setzen. Tonja Zürcher half mit, sie alle zusammen zu bringen. Oder wie Sozialdemokrat Rechsteiner sagt: «Tonja schafft es, Aktivismus und Realpolitik zu vereinen.»
Sie fremdelt im Rathaus
Doch auf der Strasse fühlt sich Tonja Zürcher wohler als im Rathaus oder im Congress Center. «Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich den Aktivismus wählen.» Ja, es wirkt fast so, als würde sich die Aktivistin auf der Strasse die Kraft fürs Parlament holen. «Im Grossen Rat fühle ich mich ein wenig wie… im Theater», sagt sie. Trägt dort extra einen Kittel aus dem Brocki über T-Shirt und Jeans, um sich ein bisschen anzupassen. Aber der schwarze Holzohrstecker bleibt.
Sowieso. Dieses leichte Fremdeln, das Zürcher im Grossen Rat spürt, das fühlt auch manches Gegenüber. Zwar erhält ihre Arbeit im Parlament Respekt, sagt Rudolf Rechsteiner anerkennend: «Tonja ist eine Klassenkämpferin und provoziert gerne, hat aber eine hohe Kompetenz in der Analyse, vor allem in der Umweltpolitik und in der Sozialpolitik.» Man hört Zürcher deshalb zu im Parlament.
Sie geht manchen auf die Nerven
Andererseits geht «ihre Interpretation der Wirklichkeit manchen auf die Nerven», wie Rechsteiner es ausdrückt. Eben zum Beispiel FDP-Grossrat Luca Urgese. «Zwischen Tonja und mir liegen Welten», sagt er, der sein Haar seitlich scheitelt, Anzug trägt und vom Gewerbeverband schon dreimal als «gewerbefreundlichster Grossrat» eingestuft wurde. Der persönliche Umgang mit Zürcher sei zwar gut, sagt Urgese. Man könne Differenzen auch gut ausdiskutieren, aber: «Konsens mit Tonja zu finden ist anspruchsvoll. Meist klappt der Spagat nicht.»
Ein Beispiel: Bei der Steuervorlage 17 haben sich fast alle Parteien bei einem Hinterzimmerdeal gefunden. Nur eine Partei scherte aus: die BastA!. Urgese sagt dazu: «Wenn man immer alles aus Fundamentalkritik bekämpft, ist es einfach schwierig, Kompromisse zu finden. Und die braucht es im Parlament.»
Tonja Zürcher dagegen sieht gerade diesen Deal als Mahnmal dafür, wie sie nie werden will: «Alle in diesem Zimmer redeten nur von der Novartis und der Roche, und dass man es den Pharmariesen ja recht machen soll.» Niemand habe an die Bevölkerung gedacht, die für die Steuererleichterungen nachher aufkommen müsse.
So tönt sie, die linkste Parlamentarierin Basels. Was treibt sie an? «Vieles auf der Welt ist immer noch scheisse. Auf der Strasse können wir das ändern», sagt Zürcher immer wieder.
Auf Basels Strassen hat sie Menschen gefunden, die sie verstehen und mitmachen. Denen traut sie offenbar mehr Veränderungskraft zu als dem geregelten Parlamentsbetrieb. Vielleicht steckt in der Aktivistin Zürcher auch immer noch das Kind Tonja aus dem Aargau, das beharrlich mit Klischees bricht, statt sich anzupassen.