Kein Alkohol, einfach so

Vom Apéro zur Weihnachtsfeier, vom Familienessen zur Silvesterparty: Überall gibt es Alkohol. Wer seinen Konsum hinterfragt oder dankend ablehnt, zieht zu oft Misstrauen auf sich, meint Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

Wochenkommetntar Alkohol Weihnachten
(Bild: Adobe Stock/Collage: Bajour)

Ich freue mich schon jetzt auf die Frage, ob ich denn schwanger sei, wenn ich an Weihnachten ein Bier oder ein Glas Sekt ablehne – weil mir gerade nicht danach ist. Auch wenn es als Witz (wenn auch sehr schlechter) gemeint ist, löst es doch häufig einen Rechtfertigungsdruck aus. Es folgen Entschuldigungen wie «Ich muss noch fahren», «Kuriere noch etwas aus» oder «Hatte gestern schon genug». 

Wobei es in den vergangenen Jahren sehr viel gängiger geworden ist, nichts zu trinken. Es gibt zahlreiche alkoholfreie Biere und mittlerweile sogar Gin oder Aperol ohne Alkohol. Aber einfach so – quasi grundlos – nichts zu trinken, löst immer noch bei einigen Mitmenschen Argwohn aus. Ist das nicht bezeichnend?

Als ich schwanger war, kam der Spruch: «Du darfst ja nicht!» Ich wurde bemitleidet. Und auch, wenn ich mir zwischendurch mal ein süffiges, eiskaltes Bier gewünscht habe, fand ich den Verzicht nicht einschneidend. Dahinter steckt das gesellschaftliche Selbstverständnis, dass Alkohol eben dazu gehört und man nur unter besonderen Umständen gar nichts trinkt. Wenig zu trinken ist okay, gar nichts: komisch. Die Arud (Zentrum für Suchtmedizin) gibt Alkoholabhängigen, die ihren Konsum verringern wollen, auf ihrer Webseite unter anderem den Tipp, sich Standard-Sätze zurechtzulegen, «weshalb man zu gesellschaftlichen Anlässen keinen Alkohol trinkt».

Dass Alkohol schädlich ist, und zwar ab dem ersten Tropfen, ist erstaunlicherweise eine eher neue Erkenntnis.

Wer eine Zigarette ablehnt, braucht dafür keine Rechtfertigung. Dass Zigaretten Krebs auslösen und grundsätzlich gesundheitsschädlich sind, scheint bei den Leuten angekommen zu sein. Dass auch Alkohol schädlich ist, und zwar ab dem ersten Tropfen, ist erstaunlicherweise eine eher neue Erkenntnis. Bier und Wein begreifen viele als komplett harmlos. Noch 2020 berichtete der Blick: «Wein macht schön und hält gesund». Der sogenannte moderate Konsum, ein Gläschen am Abend, schien lange ganz normal und eben: sogar gesund.

Ich erinnere mich an die frühen 2000er-Jahre, als Alkopops aufkamen und in Deutschland ab 16 Jahren erlaubt waren. Ein Süssgetränk mit Hart-Alk: Davon lässt sich in kurzer Zeit viel reinkippen, ohne bitteren Alkohol-Geschmack. Geil! Als sich immer mehr Jugendliche damit ins Koma gesoffen hatten, gab es ein Verbot für unter 18-Jährige. 

Und schon in meiner Kindheit lernte ich, dass die britische Queen Mum sich gern mal ein Glas Gin genehmigte. Ich erinnere mich nicht, dass das als Problem gesehen wurde, sondern sie vielmehr dafür gefeiert wurde. Sie ist ja immerhin über 100 Jahre alt geworden, so abträglich kann das also nicht gewesen sein?! Und auch ihre Tochter, Elisabeth II., war einem Cocktail nicht abgeneigt. 2017 titelte die NZZ «Vier Drinks pro Tag halten die Queen bei Laune und Gesundheit». Im Artikel heisst es dann ernsthaft: «Geniessen Sie also Ihren mittäglichen oder abendlichen Drink – vor allem wenn er Gin beinhaltet – ohne schlechtes Gewissen und freuen Sie sich auf ein hohes Alter bei bester Gesundheit. Nur nicht übertreiben!» 

Kommt es zu häuslicher Gewalt, ist laut BAG bei rund 25 Prozent der Festgenommenen Alkohol im Spiel.

Das ist wohl das Ergebnis jahrhundertelangen Alkohol-Lobbyings. Es gibt genügend Beispiele für Verharmlosung. Alkohol zu trinken ist ganz normal, gehört dazu, ist gesund. Wer traut sich, das den Kindern von alkoholkranken Eltern zu sagen? 

In der Schweiz trinken heute weniger Leute als früher täglich Alkohol. Zum Glück. Aber: ​​Das Rauschtrinken steigt laut BFS seit 2007 an. In der Schweiz trinken rund 3.4 Prozent der Frauen und 4.4 Prozent der Männer im Alter ab 15 Jahren regelmässig zu viel Alkohol. Rund 250’000 Personen in der Schweiz sind laut BAG alkoholabhängig oder zumindest stark alkoholgefährdet, davon sind rund zwei Drittel Männer. Kommt es zu häuslicher Gewalt, also meistens Gewalt gegen Frauen, ist gemäss BAG bei rund 25 Prozent der Festgenommenen Alkohol im Spiel.

Übrigens: Die Ausrede, dass sie noch fahren müssen, gilt offenbar nicht für alle. Ein Viertel der Schweizer*innen setzt sich nach Alkoholkonsum ans Steuer. Übel stösst es mir auf (auch ohne Bier), wenn Leute alkoholisiert ins Auto oder auch aufs Velo steigen und damit andere gefährden. Im vergangenen Jahr sind bei Alkoholunfällen im Strassenverkehr 506 Personen schwer verletzt und 31 getötet worden, teilte die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) diesen Monat mit. Und die Situation hat sich in den letzten zehn Jahren nicht verbessert.

Beim aktuellen Zustand der Welt muss man Verständnis haben, wenn sich Menschen ab und zu mit Alkohol vergiften wollen. Vielleicht sollten wir 2025 da ansetzen.

Es ist Zeit, sich zu fragen, warum schon junge Menschen Alkohol trinken, warum sie regelmässig zu viel trinken und ob das nicht vor allem daran liegt, was wir ihnen vorleben und daran, dass Alkohol so gut wie immer und überall verfügbar ist. 

Diese Woche haben wir die Bajour-Community gefragt, ob Alkoholkonsum – vor allem in der Weihnachtszeit – verharmlost wird. 75 Prozent bejahten dies. Der ehemalige Kantonsarzt von Basel-Stadt, Thomas Steffen, erinnerte in der Diskussion daran, dass es für Alkohol keine harmlose Untergrenze gibt. «Dies ist eine oft übersehene Tatsache, gerade in der Festzeit. Neue Forschung zeigt, dass selbst wenig Alkohol schaden kann. Zellgift bleibt Zellgift.»

Obwohl man beim aktuellen Zustand der Welt natürlich Verständnis haben muss, wenn sich Menschen ab und zu mit Alkohol vergiften wollen. Vielleicht sollten wir 2025 da ansetzen. Zum Wohl – aller!

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Kommentare

Steffi
20. Dezember 2024 um 06:44

Es lebt sich bestens…

…..ohne Alkohol. Das bedeutet für mich auch keine Einschränkung von Lebensgenuss. All die möglichen negativen Folgen von Alk bleiben mir, als Nebenerscheinungen, erspart…. Das ist ja weiter auch nicht schlimm.