Djamal und Ludmila – gleiche Bomben, anderes Fluchtschicksal

Von hier bis Kiew sind es 1’700km. Nach Aleppo: 2’700km. Doch während die Schweiz die Ukrainer*innen mit offenen Armen empfängt, haben es Syrier*innen deutlich schwerer. Ein Vergleich.

Links Aleppo, rechts Mariupol.
Links Aleppo, rechts Mariupol. Beide von russischen Bomben getroffen. (Bild: Keystone-SDA)

Regelmässig, wenn auf der Welt Krieg herrscht, flüchten Menschen in die Schweiz. Aber je nachdem, wo sie herkommen, werden sie unterschiedlich behandelt. Für Ukrainer*innen gelten andere Regeln als für Syrier*innen. 

Welche?

Das spielen wir durch mit zwei fiktiven Personen: Djamal aus Aleppo und Ludmila aus Kiew. Beide mussten ihre vom russischen Militär bombardierten Städte verlassen. Djamal ist 2015 aus dem Bürgerkrieg in Syrien geflüchtet. Er wird in der Schweiz vorläufig aufgenommen. Ludmila ist mit ihrem achtjährigen Sohn vor zwei Wochen aus dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine gekommen. 

Fluchtweg

Ludmilas Flucht verlief turbulent. Wobei: Einmal aus der Ukraine heraus, wurden sichere Flüchtlingsrouten geschaffen. Die Deutsche Bahn, zum Beispiel, erleichterte ukrainischen Geflüchteten die Reise mit dem Zug, die Reise aus Polen nach Deutschland war für sie kostenlos. Die SBB macht das ebenfalls. So gelang es Ludmila bis zum Badischen Bahnhof zu kommen. 

Djamals Flucht dauerte zwei Jahre, denn es existieren aus Syrien keine sicheren Fluchtwege. Zuerst musste er irgendwie nach Lybien kommen – kein einfaches Unterfangen, aus seinem Heimatland, wo Bürgerkrieg herrscht, in ein fremdes Land zu gelangen, wo ebenfalls Bürgerkrieg herrscht. Dazu kommt: Überall lauern Gefahren, Menschenhändler*innen oder Regimeangehörige, die Flüchtlinge in Massenlager stecken und foltern. Am gefährlichsten für Djamal ist aber die Überquerung des Mittelmeers in einem überladenen Schlauchboot. 2015 sind 4’055 Flüchtlinge dabei ertrunken. 

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Seit Kriegsbeginn unterstützt die ukrainische Autorin Eugenia Senik Familie und Freund*innen von Basel aus. Irgendwann wurde es ihr zuviel, deshalb reiste sie nach Berlin, um ihren Kopf durchzulüften. Aber es gelingt ihr nicht.

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Asylverfahren

Ludmila kann sich mit ihrem Sohn direkt in einem der sechs Bundesasylzentren melden und sich für den Schutzstatus S registrieren – ohne sich bürokratischen Hürden auszusetzen. Denn der Bundesrat hat im Rahmen des Ukraine-Kriegs den Schutzstatus S aktiviert. Das bedeutet: Geflüchteten kriegen rasch ein Aufenthaltsrecht, ohne dass sie ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen müssen.

Djamal muss das ganze Asylverfahren durchmachen. Die Schwierigkeit: In der Schweiz wird ein Bürgerkrieg nicht als Asylgrund anerkannt, da es sich nicht um eine zielgerichtete Verfolgung gegen sein Persönlichkeit handelt. Obwohl Djamals Familie sich bei Oppositionellen engagiert und er mit dem sicheren Tod rechnen muss, sollten die Regierungstruppen ihn erwischen, wird Djamals Asylantrag in erster Instanz abgelehnt. Weil der Vollzug der Wegweisung aber nicht zumutbar ist, erhält der junge Syrer eine vorläufige Aufnahme und somit einen F-Ausweis.

Unterbringung

Ludmila meldet sich im Bundesasylzentrum (BAZ) Bässlergut an. Die Behörden bieten ihr an, eine Unterkunft für sie zu suchen, doch die Mutter lehnt ab. Ludmila hat eine Tante in Häfelfingen, bei der sie und ihr Kind unterkommen. Dank des Schutzstatus S darf sie selbst wählen, in welcher Schweizer Gemeinde sie leben möchte.

Djamal stellt seinen Antrag auf Asyl ebenfalls im Bundesasylzentrum (BAZ) Bässlergut gestellt. Von da aus wird er direkt in eine ihm zugewiesene Unterkunft geschickt. Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene haben keine freie Wohnsitzwahl. Von der Asylkoordination des Kantons muss Djamal in ​​das Erstaufnahmezentrum Siedlung Dreispitz. Ohne Einwilligung der Koordination darf er die Unterkunft nicht wechseln.

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Aufenthaltsrecht

Für Ludmila heisst der Schutzstatus S erstmal Aufenthaltsrecht – zumindest vorerst auf ein Jahr befristet. Nach fünf Jahren könnte Ludmila eine Aufenthaltsbewilligung erhalten, sofern der vorübergehende Schutz noch nicht aufgehoben ist. Auch eine definitive Niederlassungsbewilligung kann der Kanton nach 10 Jahren erteilen. 

Djamal muss Jahr für Jahr schauen, wie in der Schweiz über seine vorläufige Aufnahme geurteilt wird. Denn in seiner Heimat wütet der Konflikt seit zehn Jahren ohne Frieden in Sicht. Somit ist er zwar vorübergehend in Sicherheit, aber abhängig davon, ob die Behörden die Gefahr ähnlich einstufen wie er selbst.

Bewegungsfreiheit

Ludmila ist gar nicht nach Reisen zumute. Verständlich, sie hat gerade eine aufreibende Flucht hinter sich. Trotzdem möchte sie ihre Schwester in Lyon besuchen. Ludmila kann das. Denn der Schutzstatus S erlaubt es ihr, ohne spezielle Bewilligung ins Ausland zu reisen und wieder in die Schweiz zurückzukehren.

Djamal ist seit sieben Jahren in der Schweiz und kennt Basel langsam richtig gut. Wie alle kühlt er sich im Sommer mit Wickelfisch im Rhein ab. Er lässt sich vom Tinguely Museum bis zur Dreirosenbrücke treiben, wie es sich gehört. Weiter dürfen die Schwimmenden nicht, sonst landet man plötzlich in Deutschland. Und das ist Djamal nicht erlaubt. Vorläufig aufgenommene Ausländer*innen dürfen nämlich nicht frei reisen. Djamal musste seinen heimatlichen Pass beim Staatssekretariat für Migration (SEM) hinterlegen. Wenn er mal seine Freunde in Deutschland besuchen möchte, muss er beim SEM vorsprechen und ein Visum beantragen. 

«Diese Handhabung wirft Fragen der Gleichberechtigung auf.»
Peter Uebersax, Titularprofessor für öffentliches Recht

Erwerbstätigkeit 

Wenn du als Schutzbedürftiger arbeiten möchtest darfst du das während der ersten drei Monate nach Einreise grundsätzlich nicht. Eigentlich. Aber für Ukrainer*innen gilt das nicht. Ludmilla kann, wenn sie möchte, ohne Wartefrist erwerbstätig werden. Und sie möchte: Als Klavierlehrerin hat sie vielen Kindern die ersten Stücke am Piano beigebracht. Das will sie nun auch in Basel anbieten. Das ist auch erlaubt, weil Selbständige neu auch in diese Kategorie gehören. Das soll zur finanziellen Unabhängigkeit der betroffenen Personen beitragen.  

Auf Arbeitssuche ist Djamal schon länger. Während seinem laufenden Asylverfahren wurde ihm das Arbeiten verwehrt. Dieses Gefühl kennt er gar nicht, denn seit seiner Kindheit hat er zuhause im Familienbetrieb mitgeholfen. Zum Glück wird ihm nun als «vorläufig aufgenommene Person» die Erwerbstätigkeit grundsätzlich nicht verwehrt. Erfolg auf dem Arbeitsmarkt hatte der syrische Kaufmann trotzdem nicht. Denn der vermeintlich nur vorläufige Aufenthalt hält potenzielle Arbeitgeber davon ab, vorläufig Aufgenommene einzustellen. Eine Hürde, die die Arbeitsmarktintegration massgeblich erschwert.

Familien-Nachzug

Ludmilla kann jederzeit ihre Eltern in die Schweiz holen. Das Wissen beruhigt sie ein wenig, denn sie sorgt sich sehr um ihre Eltern in der Ukraine Der Schutzstatus S berücksichtigt einen erweiterter Familienkreis: Partner*innen, minderjährige Kinder und andere enge Verwandte sollen nachgezogen werden können. 

Djamal kann es vergessen, in naher Zukunft seine Eltern bei sich zu haben. Denn vorläufig aufgenommene Geflüchtete können frühestens drei Jahre nach Erteilung der vorläufigen Aufnahme ein Gesuch um Familiennachzug einreichen. Und dazu müssen klare Kriterien erfüllt sein:

  1. Die betroffenen Personen müssen zusammenwohnen.
  2. Es muss eine bedarfsgerechte Wohnung vorhanden sein.
  3. Die Personen dürfen nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein.

Für Djamal, der wegen der erschwerten Jobsuche nach wie vor von der Sozialhilfe leben muss, eine kaum zu bewältigende Herausforderung.

Sozialhilfe und medizinische Unterstützung

Die Sozialhilfe und Krankenversicherung sind für Ludmila und Djamal gleich. Der Kanton richtet die Sozialhilfe für Asylsuchende, vorläufig aufgenommene Personen und anerkannte Geflüchtete aus. Das sollen nach Möglichkeit Sachleistungen sein – der Ansatz liegt unter dem für die Schweizer Bevölkerung definierten Sozialhilfebetrag. Schutzsuchende sind ausserdem von Amtes wegen Krankenversichert. 

Integration

Für Djamal und Ludmila ist klar, sie sind jetzt in der Schweiz. Die Entfernung zu Kiew: 1’700km, zu Aleppo: 2’700km. Sie sind weit weg von Zuhause. Sie müssen sich integrieren, denn wie lange sie noch hier bleiben, ist unklar. Der Bund stellt gewisse Hilfestellungen zur Verfügung. Zum Beispiel werden alle Kinder eingeschult. Das heisst, Ludmilas achtjähriger Sohn wird schnellstmöglich in die Primarschule kommen. Alle drei lernen Deutsch und sind frei weitere Integrationsprogramm in der Stadt bereit. Doch während Ludmila ihre Eltern nach deren Flucht am Bahnhof SBB in die Arme nehmen kann, vermisst Djamal sein Familie nach wie vor. Das erschwert seine Integration und nagt an seinem Fokus. Er schweift in Gedanken regemässig zu seinen Geschwistern im Kriegsland ab, wenn er eigentlich Deutschwörtchen auswendig lernen möchte.

Ob das fair ist, ist eine moralische Frage. Aber ist es rechtens? 

Diese Frage führt unter Jurist*innen zu Diskussionen, sagt  Peter Uebersax, Titularprofessor für öffentliches Recht mit Schwerpunkt Migrationsrecht an der Uni Basel. Abgesehen davon, dass sich unter Umständen aus dem Völkerrecht gewisse Gleichbehandlungsansprüche ableiten lassen, hält Artikel 8 der Schweizer Bundesverfassung ausdrücklich fest: «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse (...)»

Die unterschiedlichen Asylverfahren für Syrier*innen und Ukrainer*innen haben vor allem praktische Gründe. Es kommen so viele Geflüchtete auf einmal, dass die Behörden auf eine vereinfachte Registrierung setzen müssen, um die Gesuche zu bewältigen. Deshalb sagt Professor Uebersax: «Beim Asylerfahren lässt sich die unterschiedliche Behandlung begründen.»

Anders beim Schutzstatus. Hier werden die Syrier*innen im Vergleich zu den Ukrainer*innen bei einzelnen Statusrechten benachteiligt, ohne dass dafür ernsthafte sachliche Gründe ersichtlich sind. «Dementsprechend scheint diese Handhabung nach Artikel 8 BV schwierig zu rechtfertigen und wirft Fragen der Gleichberechtigung auf», so Uebersax.

Dabei ginge es nicht darum, die günstigere Ausgestaltung des Status S für Ukrainer*innen in Frage zu stellen, sondern den verbesserungsbedürftigen, in verschiedener Hinsicht schlechteren Status F (sog. vorläufige Aufnahme) für andere Kriegs- und Bürgerkriegsvertriebene.

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