Bullwinkels Blickwinkel

Ohnmacht der Linken

Die SVP spricht mit der populistischen 10-Millionen-Initiative die Ängste der einfachen Bevölkerung an, die sich von der Linken nicht mehr vertreten fühlt. Wenn die Befürworter*innen der Bilateralen III nicht das Nachsehen haben wollen, sollten sie rhetorisch aufrüsten, findet Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

Woko Zuwanderung
(Bild: Adobe Stock)

Ängste sind meistens nicht rational, ernst nehmen muss man sie aber trotzdem. Auf dem Sorgenbarometer der Schweizer*innen steht weit oben die Zuwanderung, gleich hinter den Gesundheitskosten. Und gerade weil Migration die Menschen umtreibt, erschreckt es, dass die anderen Parteien und auch der Bundesrat bis jetzt keine echte Antwort auf die 10-Millionen-Initiative der SVP gefunden haben. Ein Gegenvorschlag wird vermutlich nicht zustandekommen und die Gegen-Kampagne ist momentan sehr viel leiser als die Initiative.

Sie kommt auch gut an in der breiten Bevölkerung. Das zeigte erst kürzlich eine Umfrage: Eine relative Mehrheit unterstützt den Anti-EU-Kurs, den diese Initiative in Wahrheit darstellt. Für die Gegner*innen könnte es ziemlich knapp werden.

Die Bevölkerung soll bis 2050 nicht über 10 Millionen wachsen – Nachhaltigkeit nennt die SVP das. Nachhaltig wäre vor allem der wirtschaftliche Schaden. Würde die 10-Millionen-Initiative angenommen, sind die aktuellen Verhandlungen für die Bilateralen III obsolet. Die anstehende Abstimmung darüber wird vorweggenommen. Ohne Personenfreizügigkeit gibt es keinen Zugang zum EU-Binnenmarkt. Die Beziehung zum wichtigsten Handelspartner wird aufs Spiel gesetzt. Es ist kein Zufall, dass die Initiative parallel zu den EU-Verhandlungen lanciert wurde. 

Der Affentanz um die 39-Prozent-US-Zölle hat gut demonstriert, wie es ist, von einer Weltmacht abhängig zu sein, die auf Abkommen pfeift.

Mit den EU-Verträgen ginge die Schweiz zwar Kompromisse ein, sie profitiert aber auch unheimlich. Die Vorteile werden unterschätzt, denn am liebsten würde man noch mehr profitieren und noch weniger geben. Der Affentanz um die 39-Prozent-US-Zölle hat gut demonstriert, wie es ist, von einer Weltmacht abhängig zu sein, die auf Abkommen pfeift. Wenn die Schweiz auf das Recht des Stärkeren setzen möchte, kann sie das tun. Vorher sollte sie sich allerdings nochmal die eigene Grösse bewusst machen.

Die SVP Basel-Stadt, die sich beim Anti-Personenfreizügigkeit-Kurs in der Vergangenheit eher zurückhaltend gegeben hat (Abschotten als Grenzkanton ist dann doch eher unglaubwürdig), ist inzwischen rhetorisch komplett auf die Schiene der Mutterpartei gesprungen. 

Während die Basel-städtische Wirtschaftselite mit Blick aufs EU-Bashing die Hände überm Kopf zusammenschlägt, zeigt man sich anderswo in der Schweiz entspannter – trotz Arbeits- und Fachkräftemangel, trotz Geburtenrate auf Rekordtief, trotz dem Zugewinn durch Grenzgänger*innen und Binnenmarkt-Profit.

Wo bleibt die überzeugende Botschaft von links, die die Zweifler*innen abholt und den SVP-Plan nicht als alternativlos dastehen lässt?

Allerdings kommt die 10-Millionen-Initiative an, nicht nur bei SVP-Wähler*innen. Wer regelmässig in vollen Zügen unterwegs ist, im Stau steht und kaum die Miete zahlen kann, den erreichen die Argumente der Populist*innen. Warum? Weil für eine grosse Sorge – «Uns könnte es schlechter gehen durch Zuwanderung» – eine vermeintlich einfache Lösung vorgelegt wird: Abschottung. 

Wo bleibt die überzeugende Botschaft von links, die die Zweifler*innen abholt und den SVP-Plan nicht als alternativlos dastehen lässt? Hier haben die Parteien in den kommenden Monaten noch Arbeit vor sich, wenn sie am Abstimmungssonntag nicht betroffen nach Erklärungen suchen wollen.

41 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. Und gleichzeitig sorgen sich laut aktueller Umfrage 50 Prozent, dass wegen der Zuwanderung Kultur und Werte der Schweiz gefährdet sind. Schwer zu glauben, dass es zwischen den 41 und 50 Prozent keine Überschneidungen geben soll.

Angst haben sollte die Bevölkerung davor, dass die Beziehung mit der EU auf der Kippe steht und es nicht mehr attraktiv ist für Fachkräfte, in die Schweiz zu kommen. So manche*r könnte sich dann nach einer 10-Millionen-Schweiz sehnen.

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