Aufklärung statt Polemik
Die Verhandlungen mit der EU sind abgeschlossen. Ausruhen kann sich der Bundesrat nicht. Der Kampf ums Abkommen beginnt jetzt erst so richtig. Am Ende muss das Volk nüchtern nachvollziehen können, was das Ganze unter dem Strich bringt, kommentiert Chefredaktorin Ina Bullwinkel.
Es ist vollbracht: Die Schweiz hat die Verhandlungen mit der Europäischen Union über ein neues Abkommenpaket abgeschlossen. Das ist ein wichtiger Schritt, auf den die Befürworter*innen lange gewartet haben. Beim letzten Mal, vor dreieinhalb Jahren, verliess die Schweiz ohne Abschluss den Verhandlungstisch und stiess die EU vor den Kopf. Aua. Jetzt traten kurz vor Weihnachten Bundespräsidentin Viola Amherd und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen freudestrahlend vor die Presse.
Dieses Mal soll es anders laufen: Neue Chefunterhändler; Abkommenpaket statt Rahmenabkommen; den Gewerkschaften bei der Entsendung von Arbeitskräften entgegengekommen; eine Schutzklausel in Bezug auf die Personenfreizügigkeit festschreiben, ausserdem können straffällige EU-Bürger des Landes verwiesen werden. Kurz: Bei den heiklen Punkten, die 2021 zum Abbruch führten, zeigte sich die EU kompromissbereit.
Und klar, die Schweiz konnte nicht alle ihre Forderungen unterbringen. Die Spesenregelung bleibt ein Zankapfel mit den Gewerkschaften, der SVP und ihren Anhänger*innen wird die Schutzklausel zur beschränkten Zuwanderung nicht weit genug gehen und sowieso ist einigen das ganze Paket und die vermeintliche Annäherung an die EU zuwider (wobei es vor allem um den Fortbestand der bilateralen Beziehungen sowie den gesicherten Zugang zum Binnenmarkt geht).
Die Erfolgsmeldung des Bundesrats kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Weg zum Abkommen erst jetzt so richtig beginnt. Denn am Ende bestimmt das Volk.
Die zukünftige Verbindung mit der EU treiben die Schweizer*innen um. Und die Erfolgsmeldung des Bundesrats kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Weg zum Abkommen erst jetzt so richtig beginnt. Denn am Ende bestimmt das Volk. Es gibt diejenigen, die an die Beziehungen mit der EU glauben und für die die Vorteile überwiegen.
Es gibt aber auch viele Gegner*innen, denen das Abkommenpaket schwer verdaulich im Magen liegt und die Verunsicherten bzw. Unentschlossenen. Die Kommentarspalten der entsprechenden Medienartikel offenbaren den zu erwartenden Gegenwind. Wobei man hier nicht vergessen darf, dass die Lauten nicht unbedingt die Mehrheit darstellen. Ernst nehmen muss man diese Stimmen aber sehr wohl. Politiker*innen, Medien- und Wirtschaftsvertreter*innen sollten genau hinhören und sich hinterfragen.
Die Schweizer Regierung muss glaubwürdig sein, wenn sie bei den Abstimmungen überzeugen möchte – bei den beiden zum Paket und auch bei den zahlreichen Gegen-Initiativen, die sich ankündigen.
Es wird von «Verrat an der Eidgenossenschaft» geschrieben, von Unterwerfung, Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts, «ungebremster Zuwanderung». Kritik wird laut an der Bürokratie und Schwerfälligkeit der EU. Diese Ängste bedient die SVP, nicht zuletzt mit ihrer 10-Millionen-Initiative.
Wo bleibt die Gegenrede? Manche sehen keine Vorteile, sondern nur Nachteile in den gemeinsamen Abkommen. Wohl mitunter auch, weil sie die Argumente des Bundesrats nicht kennen oder nicht verstehen – die Materie ist schliesslich komplex und Debatten werden häufig im Fachjargon geführt. Behauptungen und einfache Wahrheiten erscheinen da attraktiver als Formulierungen mit drei Wenns.
Was auch durchscheint: Mangelndes Vertrauen in die Versprechen des Bundesrats. Der FDP-Bundesrat Ignazio Cassis tritt bisher tatsächlich nur als nüchterner Überbringer von Botschaften und nicht als enthusiastischer Vertreter des Abkommenpakets auf. Überhaupt gibt sich der bürgerlich dominierte Bundesrat zurückhaltend. Das ist ein Problem. Die Schweizer Regierung muss glaubwürdig sein, wenn sie bei den Abstimmungen überzeugen möchte – bei den beiden zum Paket und auch bei den zahlreichen Gegen-Initiativen, die sich ankündigen.
Auf das Verhandlungsmandat mit der EU wird abwechselnd von der SVP oder den Gewerkschaften eingeprügelt. Warum die Spesenregelung halb so wild ist und die Schweiz mit einem Abkommen viel erreichen könnte, erklärt die Basler Europarecht-Professorin Christa Tobler im Interview.
Der handfeste Klärungsbedarf ist enorm. In einer Kommentarspalte des Tagesanzeiger wünscht sich ein Leser einen aufklärenden Artikel, ob «der ständig wiederholte Vorwurf, wir gäben das Selbstbestimmungsrecht auf» jetzt nun stimme oder was das Volk etwa vom Stromabkommen habe. Auch steige er bei den Spesenregelungen nicht durch und wünscht sich konkrete Beispiele von den Gewerkschaften sowie nüchterne Analysen in den Medien. «Ich sehe mich ausserstande 1400 Seiten zu lesen und zu durchschauen», schreibt er.
Gibt es einen Preis für den kontruktivsten Leser*innenkommentar? Dieser würde es auf jeden Fall in die engere Auswahl schaffen.
Aufklärung ist das Gebot der Stunde. Das Volk muss ohne Zweifel nachvollziehen können, ob das Abkommenpaket etwas Gutes ist, was die Alternative wäre und ob es einen Kompromiss – mit allen Pros und Cons – darstellt, den es annehmen kann. Die Regierung darf sich nicht hinter komplizierten Formulierungen verstecken, sondern muss klar benennen, was auf dem Spiel steht, muss die Konfrontation suchen und den verhandelten Vertrag offensiv verteidigen. Da das Volk vermutlich noch nicht 2025 abstimmen wird, braucht der Bundesrat einen langen Atem und darf das Feld nicht den Angstmacher*innen überlassen. Allerdings: Würde das Volk Nein sagen, wären endlich die Gegner*innen dran, eine bessere Lösung zu finden, die der Schweiz, dem gallischen Dorf inmitten der EU, wirtschaftlich, politisch und kulturell ähnlich viel bringt.