Die neue Abstimmungslotterie im Grossen Rat

Die Wahlzettel sind ausgezählt, die Kommentare geschrieben, die Parteiversammlungen abgehalten. Die Aufmerksamkeit gilt nun noch dem letzten freien Sitz im Regierungsrat. Doch wir müssen dringend auch über die neuen Mehrheitsverhältnisse im Grossen Rat sprechen, schreibt FDP-Politiker Luca Urgese in seiner Kolumne.

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Das Parlament muss sich über die neuen Mehrheitsverhältnisse Gedanken machen. (Bild: Michael Fritschi / Collage: Bajour)

Eigentlich hat sich im Grossen Rat nur ein Sitz verschoben. Die bürgerlichen Parteien kommen gemeinsam wie bisher auf 43 Stimmen. Die linken Parteien legen von 48 auf 49 Stimmen zu. Bleiben die Grünliberalen also auch in der neuen Legislatur das Zünglein an der Waage, wie in den Medien zu lesen ist? Die Ausgangslage ist verzwickter.

Zur Person

Luca Urgese, Jg. 1986, politisiert seit 2014 für die FDP im Grossen Rat. Von 2016 bis 2021 war er Parteipräsident. Im März kandidierte Urgese für den Regierungsrat, unterlag jedoch Mustafa Atici. In seiner Kolumne «Caffè Urgese» schaut er mit der bürgerlichen Brille auf Basel. Er äussert sich als Politiker und nicht als Mitarbeiter der HKBB.

Stimmen die Grünliberalen mit dem linken Lager, besteht wie bisher eine solide links-grüne Mehrheit im Grossen Rat. Man darf also davon ausgehen, dass sich bei Umwelt- oder Verkehrsfragen nicht sonderlich viel ändern wird. Stimmen die Grünliberalen jedoch, wie heute vereinzelt der Fall, mit dem bürgerlichen Lager, kommt dieses neu auf 50 Sitze (bisher: 51).

Das Ratspräsidium führt drei Jahre lang zu einer Pattsituation

Nun kommt das Grossratspräsidium ins Spiel. Gemäss dem von den Parteien vereinbarten Turnus wird dieses in den nächsten drei Jahren bürgerlich besetzt sein. Im vierten Jahr kommt die SP zum Zug. Das Präsidium stimmt jeweils nicht mit, dessen Stimme fehlt. In der Konsequenz kommt es zum Patt von 49:49.

Der aufmerksamen Leserin wird aufgefallen sein, dass eine Stimme fehlt. Daher ist jetzt der Zeitpunkt, um das Problem beim Namen zu nennen: Ausschlaggebend wird bei einer solchen Pattsituation das Stimmverhalten eines fraktionslosen Ratsmitglieds, dessen Abstimmungsverhalten sprunghaft, launisch und unberechenbar ist. Damit wird jede knappe Abstimmung zur Lotterie.

«Das neue Parlament wird sich überlegen müssen, wie es sich aus dieser unsäglichen Abhängigkeit befreien kann.»
Luca Urgese

Natürlich spielt der Zufall heute bereits eine Rolle, gehen Abstimmungen wegen einzelnen Abwesenheiten verloren. Das ist der Preis unseres Milizsystems. Doch im Grossen und Ganzen sind die Mehrheiten heute konsistent. Je nach Thema links-grün oder bürgerlich-liberal.

Ob das so bleibt, ist völlig offen. Präsenz und Geschlossenheit werden in den kommenden vier Jahren mit dieser Ausgangslage nochmals wichtiger. Es ist also zu erwarten, dass der Druck auf alle Ratsmitglieder zur Anwesenheit und zum konformen Abstimmungsverhalten weiter zunehmen wird. Gleichzeitig wird das neue Parlament sich überlegen müssen, wie es sich aus dieser unsäglichen Abhängigkeit befreien kann. Gute Ideen sind gefragt.

War der Wahlkampf nun langweilig oder nicht?

Auch wenn sich im Grossen Rat historisch wenige Sitze verschoben haben, sind die Auswirkungen also dennoch bedeutend. Und in der Detailanalyse zeigt sich, dass oft nur wenige Stimmen den Ausschlag für einen Sitzgewinn oder -verlust gegeben haben. Das macht jeden Wahlkampf spannend, auch wenn die mediale Analyse «Der Wahlkampf ist langweilig» zum Standardprogramm jeder Wahl gehört.

Ja, wir haben keine amerikanischen Wahlkämpfe. Und mit Blick über den Atlantik scheint mir das gar keine so schlechte Sache zu sein. Vor lauter vermeintlicher Langeweile tendieren Medienschaffende allerdings dazu, selber aktiv in den Wahlkampf einzugreifen und diesen zwecks Leserinteresse zu befeuern. Der Grat zwischen Journalismus und politischem Aktivismus ist dabei schmal.

Erich Bucher, Luca Urgese, Eva Biland bei den Wahlen Oktober 2024
Luca Urgese (in der Mitte) mit Eva Biland (r.) und Grossrat Erich Bucher (l.). (Bild: Ernst Field)

Davor ist auch die Redaktion dieses Onlinemediums nicht gefeit. Seit dem Nominationsparteitag im Juni gab es praktisch keinen Artikel zu Eva Bilands Wahlkampagne, in dem sie nicht als die eigentlich falsche Wahl meiner Partei bezeichnet wurde. Es steht der Redaktion frei, das so zu einzuschätzen. Bemerkenswert ist allerdings, dass sie selbst am Wahlsonntag noch aktiv versuchte, einen alternativen Kandidaten für den zweiten Wahlgang zu lancieren. Trotz klarer Absage der Parteileitung.

Weil diese Bemühungen nicht fruchteten, war die vernichtende Analyse eine Frage der Zeit und folgte prompt – mit einer Warnung an alle Frauen, sich ja nicht bei der FDP zu engagieren. Schliesslich sei selbst meine überaus engagierte Parteikollegin Tamara Alù «erfolglos» geblieben.

«Wir wissen nicht erst seit diesem Wahlkampf, dass am Schluss jede Stimme den Unterschied machen kann.»
Luca Urgese

Tatsächlich? Sie wurde im ersten Anlauf erste Nachrückende. Sie wird daher aller Wahrscheinlichkeit nach im Verlauf der Legislatur Grossrätin werden. Man kann das als «erfolglos» bezeichnen. Nur: Als ich vor zwölf Jahren erstmals für den Grossen Rat kandidierte, wurde ich zweiter Nachrückender. Zwei Jahre später war ich Grossrat. 

Die Redaktorin unterlag offensichtlich einem typischen «Confirmation bias»: Man nimmt nur noch wahr, was den eigenen Standpunkt bestätigt. Alles andere wird ausgeblendet.

Wohlgemerkt, das soll hier keine Medienschelte werden. Wir brauchen kritische Medien. Als Partei, die bei Wahlen nicht gewinnt, muss man sich zudem kritische Fragen und Artikel von Medienseite gefallen lassen – und muss sich solche Fragen auch selber stellen. Das wird die FDP wie gewohnt selbstkritisch intern tun. Weil wir nicht erst seit diesem Wahlkampf wissen, dass am Schluss jede Stimme den Unterschied machen kann. An der Wahlurne und im Parlament.

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